Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1962 Schlangestehen<br />
Das ist doch rührend. Man kann nicht von jedem verlangen,<br />
daß er Musikgeschichte studiert. Für den ist also Bach nicht ge-<br />
storben. Was will man mehr? Das nenne ich lebendiges Kultur-<br />
gut! (Oder hab ich Dir das bereits geschrieben? Fange ich an,<br />
zu verwirren?)<br />
25. August<br />
Die „Götterlehre“ von Karl Philipp Moritz lese ich bereits<br />
zum zweiten Male; das ist eine entzückende Arbeit, die den<br />
Geist der Zeit atmet, da Goethe mit Moritz in Italien war. Dieser<br />
arme Teufel hatte von einem Buchhändler einen Vorschuß auf<br />
ein anzulegendes Römisches Tagebuch erhalten, sah ein, daß<br />
das nicht so einfach sei und geriet auf das Thema seiner Göt-<br />
terlehre. An manchen Wendungen merkt man den Nachklang<br />
von Gesprächen mit Goethe. […]<br />
Wenn Du in Leipzig ein Päckel Mona-Kaffee bekommen<br />
kannst, bringe für Großmutti eins mit. Viel Hoffnung hab ich<br />
nicht, denn wenn hier etwas knapp ist, wird es meist überall<br />
so sein. Wasser brauchst Du für Kriebethal nicht mitzubringen.<br />
Hier stehe ich nachts auf, welches abzufüllen, da das so zwi-<br />
schen 1 h und 3 h möglich ist. Tagsüber kommt kein Tropfen.<br />
Und am Tage nach dem oben an der Ecke haltenden Wasser-<br />
wagen zu gehen und dort unter Umständen nach Wasser an-<br />
zustehen fehlt mir die Begeisterung für gemeinschaftliche Er-<br />
lebnisse.<br />
12. September<br />
Aus den <strong>Briefe</strong>n von Anna Amalia und Karl August an<br />
Merck 13 gewinnt man das vorteilhafteste Bild dieser beiden<br />
ganz außergewöhnlichen Menschen. Dagegen wird auch die<br />
neue Ideologie nichts einwenden können; denn das Bild des<br />
13 Karl Wagner (Hg.), <strong>Briefe</strong> an Johann Heinrich Merck von Goethe, Herder, Wieland<br />
und anderen bedeutenden Zeitgenossen, Darmstadt 1835.<br />
„absoluten Fürsten“, das so heutzutage in den Geschichtsklit-<br />
terungen dargeboten wird, hat nicht das geringste mit dieser<br />
Weimarischen Wirklichkeit zu tun. Auch heute würde man so<br />
bedeutende Leute mit der Laterne suchen müssen – vielleicht<br />
ohne Aussicht, sie zu finden.<br />
14. September<br />
Ja, die Ordnung der verschiedenen Zeiten, da Läden ge-<br />
öffnet sind, fängt an, eine Wissenschaft zu werden. Es kann<br />
auch vorkommen, daß so ein Plan sich über Nacht ändert oder<br />
„daß wegen Inventur“ geschlossen ist. – Die Kartoffeln hätte<br />
ich auch holen können; das unangenehmste dabei ist doch das<br />
Warten, erst beim Bezahlen, dann beim Holen. Man sollte die<br />
Schlangen photographieren und könnte dem „einschreitenden<br />
Polizisten“ sagen: „Sehen Sie, ich will den Fortschritt im Bilde<br />
festhalten. Alle diese Leute, die hier stehen, haben sich früher<br />
nie Milch oder Fleisch kaufen können; die saßen um diese Zeit<br />
an einer schlecht gelohnten Arbeit, in Lumpen gehüllt, bei ei-<br />
ner Tranfunzel. Heute stehen sie hier, gut gekleidet, an der fri-<br />
schen Luft, unterhalten sich und schleppen dann ihren Anteil<br />
am Überflusse heim, wo sie schlemmen und dämmen wie frü-<br />
her nur die Fürsten!“<br />
„Ohne jede Voreingenommenheit die Welt zu betrachten“ –<br />
das ist ein frommer Wunsch, den keiner verwirklichen kann. Ei-<br />
nen Standpunkt hat eben jeder. Wir haben früher mal an „ge-<br />
sicherte Ergebnisse der Wissenschaft“ geglaubt – aber eben<br />
„geglaubt“, denn das gibt es auch nicht. Man wird sich doch<br />
entschließen müssen, Unerklärbares auf sich beruhen zu lassen<br />
und sich an die Sphäre des Schönen zu halten. Jeder steht im<br />
Mittelpunkte seines Horizontes, und die wenigsten bedenken,<br />
daß sich diese Kreise selten decken und daß jenseits dieser<br />
Grenze unentdeckte und unüberschaubare Gebiete liegen, die<br />
wahrscheinlich viel größer sind als die überblickbaren Räume.<br />
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