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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1963 Musik und Kristall<br />

16. Dezember<br />

Heute kam keine Post. Das wundert mich nach dem Er-<br />

lebnis mit der Eisenbahn nicht mehr. Je mehr von „Plan“ ge-<br />

redet wird, desto planloser verläuft die Wirklichkeit. Goethe:<br />

„Was man nicht hat, das eben brauchte man, und was man<br />

hat, kann man nicht brauchen.“ 20 Grammatisch zwei Subjekts-<br />

sätze mit gleichlautendem Subjekt verschiedener Bedeutung.<br />

In den „Was-Sätzen“ ist unter „man“ der Laden zu verstehen<br />

und in den „Hauptsätzen“ der Kunde. Erstaunlich bleibt, daß<br />

Goethe auch das schon ahnen konnte und den Zustand so tref-<br />

fend <strong>aus</strong>drückte. Lache nicht! Sooo ist es, sooo ist es! Denn<br />

was man hat, ist Murks, und was man braucht, gibt es nicht.<br />

Z.B. die hiesige Tusche ist ein Schlamm, mit dem keine saubere<br />

Schrift geschrieben werden kann.<br />

In meinem Kristallheft konnte ich beim Hinweise darauf,<br />

daß der naive Betrachter vergeblich in der Kristallwelt ein Pen-<br />

tagondodekaëder sucht, in dem die Seiten der begrenzenden<br />

Fünfecke gleich lang sind – weil das kristallographisch unmög-<br />

lich ist, da dabei die Verhältnisse der Achsenabschnitte irratio-<br />

nal werden – mußte ich hinzufügen: „Wor<strong>aus</strong> zu lernen wäre,<br />

eine Sache nie nach der äußeren Erscheinung zu beurteilen,<br />

sondern ihre innere Gesetzmäßigkeit zu erforschen und zu ach-<br />

ten. Was der Kristall im Raume ist – eine in Schönheit strah-<br />

lende Gesetzmäßigkeit – das ist die Musik in der Zeit.“ Ob frei-<br />

lich die Anwendung dieser Sätze auf menschliche Beziehun-<br />

gen erfaßt wird, bleibt abzuwarten. Aber es ist so. Du siehst,<br />

es kann auch einem achtzigjährigen Zittergreise noch mal et-<br />

was einfallen, was eigentlich auf der Hand liegt, und vielleicht<br />

wird es gerade wegen seiner Einfachheit übersehen. Daß in der<br />

so abliegenden Kristallographie Einsichten von allgemeiner Be-<br />

deutung stecken, ahnt man zunächst nicht.<br />

20 F<strong>aus</strong>t I. Vor dem Tor: „Was man nicht weiß, das eben brauchte man, / Und was man<br />

weiß, kann man nicht brauchen.“<br />

18. Dezember<br />

Der Vergleich der Musik mit dem Kristall liegt doch nahe:<br />

der Kristall – wie auch die Pflanze, ein Pferd – ein Geordnet-<br />

sein im Raume, das zugleich mit einem Blick erfaßt werden<br />

kann, so wie ein Blick auf eine Landschaft für immer ein Bild<br />

ins Bewußtsein prägen kann. Die Musik – eine Abfolge von Tö-<br />

nen verschiedener Dauer, Höhe, Combination, Intensität, die<br />

nur in der Abfolge der Zeit aufzufassen sind. Und dahinter ste-<br />

hen einerseits die räumlichen Baugesetze – kristallographische,<br />

anatomische – und anderseits die Kontrapunktlehre der Mu-<br />

sik, oder in der Dichtung gewisse Stilgesetze, deren Befolgung<br />

oder Vernachlässigung dann im Gesamteindrucke fühlbar wer-<br />

den, auch wenn der Leser oder Hörer gar keine theoretische<br />

Ahnung oder Kenntnis dieser Gesetze hat.<br />

Halte Dich nur überall an das Schöne!<br />

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