Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1971 „Grundtoffel“<br />
den Potsdamer Fluren wachsenden Spargelstangen gelingt es<br />
mit Hilfe der Aufkaufstellen Mauer und Stacheldraht schnell zu<br />
übersteigen, für Westgeld, versteht sich. Selbst Kleingärtner<br />
nützen die hohen Preise und verzichten darauf, in unbegrenz-<br />
ter Verfressenheit ihre Gewächse selbst zu verzehren. „Übe Ent-<br />
haltsamkeit!“ So tragen die kapitalistischen Schlemmer zur mo-<br />
ralischen Erziehung bei, zu Askese und Selbstbeschränkung.<br />
Die Tatsche der Heuchelei beweist die Ungiltigkeit der These<br />
von einer Herrschaft des Materialismus.<br />
20. Mai<br />
Himmelfahrt. Daß Dürer mal paar Bauern zeichnete, macht<br />
ihn zum „revolutionären Graphiker“ – erstaunlich, wenn man<br />
anderseits die 96 Platten vom Triumph Kaiser Maximilians, die<br />
„Passionen“, „Marienleben“, das große Wiener Bild mit dem<br />
Gewimmel der „Allerheiligen“ bedenkt (diese „Heiligen“ sind<br />
wohl revolutionäre Arbeiter?), dann wird man diese neue „Ein-<br />
ordnung“ Dürers in ein historisches Schema schwer begreifen.<br />
2. Juni<br />
Karl Foerster sagte einmal angesichts eines Geschichtsbu-<br />
ches: „Ich kenne noch alle Zahlen der ganzen Weltgeschichte<br />
– ich weiß bloß nicht, was dabei passiert ist.“ Hinter diesem<br />
scheinbaren Witz steckt die sehr ernste Wahrheit, daß kein His-<br />
toriker weiß, was in den Menschen vergangener Zeiten leben-<br />
dig war, weil jeder im Erleben seiner Zeit befangen ist. Dar<strong>aus</strong><br />
erklärt sich die große Verschiedenheit historischer Darstellun-<br />
gen. Das wird jetzt bei der unterschiedlichen Deutung Dürers<br />
ganz besonders deutlich.<br />
2. Juli<br />
Vorige Woche fuhr eine Windhose vorüber, die einen sel-<br />
tenen Baum auf dem Friedhofe – hinter der oberen Halle –<br />
schwer beschädigte. Der Friedhofsgärtner Schön brachte mir<br />
einen Zweig, um zu erfahren, was für ein Baum das sei. Es ist<br />
ein Zürgelbaum, der im mittleren Nordamerika zu H<strong>aus</strong>e ist und<br />
hier nur in Parkanlagen vorkommt. Das obere Friedhofsgelände<br />
hinter der oberen Halle bis zur Hainichener Straße bewirtschaf-<br />
tete vor 50 bis 100 Jahren ein Baumgärtner, Herr Hunger 9 , und<br />
dieser Zürgelbaum (Celtis occidentalis) ist ein Rest <strong>aus</strong> jener<br />
Zeit. Ich vermute, daß die hier und da noch vorhandenen sel-<br />
tenen Bäume, der Trompetenbaum an der Girokasse, Akazien,<br />
Ginkgo, alte Eiben, Catalpa im Garten des Seifenbergmann an<br />
der Kriebsteiner Straße, Magnolien, alte Rhododendren noch<br />
von jenem alten Gärtner gepflanzt wurden. Das Holz des Zür-<br />
gelbaumes ist sehr hart und auffallend schwer, das Laub sehr<br />
schön angeordnet, so daß die Blätter einander möglichst we-<br />
nig beschatten. Denn jedes Blatt ist eine <strong>aus</strong>gestreckte Hand,<br />
die Lichtenergie auffängt, mit deren Hilfe jede Pflanze Stärke<br />
und Zucker aufbaut. Das mache man sich immer wieder klar,<br />
wenn man an einem Getreide- oder Kartoffel- oder Rübenfelde<br />
vorbeikommt oder unter einem Obstbaum steht, dort Schat-<br />
ten suchend, der nur dadurch zustande kommt, daß das Laub<br />
die Sonnenstrahlen einfängt als Energiequelle zum Betrieb sei-<br />
ner chemischen Laboratorien, die eben in den Blättern zu se-<br />
hen sind.<br />
308 309<br />
15. Juli<br />
Als ich als kleiner Junge meinen Vater mit Fragen nach dem<br />
jeweils einzelnen plagte, was mir zu Gesicht oder ins Gehör<br />
kam, nannte er mich „einen Grundtoffel“; ich wollte von al-<br />
lem den Grund wissen, wohl oft von Dingen, deren Begrün-<br />
dung überhaupt noch niemand kannte. Dieser Wesenszug hat<br />
mich nicht verlassen. Der Mensch ist wohl bereits von frühster<br />
9 Carl Friedrich Moritz Hunger (1839–1927), Kunst- und Handelsgärtner.