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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1970 Hesses Jugendjahre<br />

gen kann. Je genauer dieser Teilungspunkt bei jedem Tone von<br />

dem Spieler gefunden wird, desto reiner ist der Ton. So ist etwa<br />

ein Kristall ein erstarrter Akkord – der Kristall als Raumgebilde,<br />

der Akkord als Gesetzmäßigkeit im Zeitablaufe. Aber diese Ge-<br />

danken erscheinen wohl absurd.<br />

28. Februar<br />

Ich lese anschließend an das Woelfflinsche Buch, „Die<br />

Kunst Albrecht Dürers“ noch ein bei mir vorhandenes von<br />

Knackfuß, „Dürer“, um die Kenntnis dieses Künstlers und sei-<br />

ner Zeit noch mal zu befestigen, wenn das auch wenig Zweck<br />

haben mag, da ich niemand mehr nütze.<br />

2. März<br />

Dr. Toepel erzählte gestern, daß sich hier in <strong>Waldheim</strong> im<br />

Besitze einer Tochter des vor einiger Zeit hier gestorbenen letz-<br />

ten Gastwirtes der „Wilden Sau“ das Gästebuch dieses einst<br />

berühmten, jetzt zerfallenen Wirtsh<strong>aus</strong>es befinde. Das Buch ist<br />

1836 von durchwandernden Leipziger Studenten angelegt wor-<br />

den und enthält über ein Jahrhundert lang viele Einträge von<br />

Studenten vornehmlich. Es hat also einen gewissen kulturhis-<br />

torischen Wert. Ich werde die Dresdener Bibliothek darauf auf-<br />

merksam machen. Vielleicht kann sie es für ihre Sammlung Sa-<br />

xonica kaufen. Vom Gasthofe selbst ist nichts Nennenswertes<br />

mehr zu sehen; er ist nach 1945 zu einem großen Teile ver-<br />

fallen. Im Restgebäude hat man Wohnungen eingerichtet. Sic<br />

transit gloria mundi [So vergeht der Ruhm der Welt].<br />

3. März<br />

Dir die Jugendbriefe von Hermann Hesse 3 zu empfehlen, zö-<br />

gere ich. Das ist keine erfreuliche Lektüre, und ich zweifle, ob<br />

3 Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in <strong>Briefe</strong>n und Lebens-<br />

zeugnissen. 1877–1895, Frankfurt am Main 1966.<br />

es richtig war, dies nach Herm. Hesses Tode drucken zu lassen.<br />

Ich geb Dir zuerst das kleine Gedenkbuch von Hermann und<br />

Adele Hesse, „Zum Gedächtnis unseres Vaters“. Es enthält von<br />

Herm. Hesse: „Aus meiner Kindheit“ (S. 7–22), „Zum Gedächt-<br />

nis“ (S. 23–49), „Zwei <strong>Briefe</strong> von Johannes Hesse“ (S. 51–58)<br />

und von Adele Hesse „Lebensabriß“ (S. 59–82). Dies Büchlein<br />

ist sehr eindrucksvoll. Es ist denkbar, daß die von Ninon Hesse<br />

her<strong>aus</strong>gegebenen Jugendbriefe her<strong>aus</strong>gegeben sind, um dem<br />

von Dir gelesenen Buche ein Gegengewicht zu geben, da sich<br />

in Hesses Jugendbriefen die unsägliche Schwierigkeit zeigt, mit<br />

diesem sehr schwer erziehbaren Jungen fertig zu werden. Man<br />

muß sich klar machen, wie geistig eingeengt die Menschen<br />

„gut bürgerlicher Kreise“ vor hundert Jahren waren, auch die-<br />

jenigen, die nicht in der Theologie wurzelten. Kam, wie in dem<br />

H<strong>aus</strong>e in Calw, beides zusammen, war das doppelt mühevoll.<br />

Durchlief ein Sohn nicht ganz normal seine höhere Schule, war<br />

das ein gesellschaftlicher Makel in den Augen aller guten Bür-<br />

ger. Erinnere Dich, daß Pipers Vater ein halbes Jahr nicht mit<br />

seinem Sohne sprach, weil dieser in einer Klasse sitzen blieb.<br />

Diese Abhängigkeit vom Urteil der anderen war eine fürchterli-<br />

che Belastung, unter der das Schicksal des zunächst Betroffe-<br />

nen überhaupt nicht gesehen wurde. Niemand sah die Wunden,<br />

die die „Erziehung“ schlug. „Strenge“ erschien als unbedingt<br />

nötig. Wie bei der Bauern-Medizin, die als um so heilsamer<br />

galt, je miserabler sie schmeckte. Wieviele „Jugendjahre“ –<br />

Jahre, die später als „schön“ besungen wurden – sind völlig<br />

sinnlos verbittert und vergeudet worden. Das beläuft sich auf<br />

Jahrt<strong>aus</strong>ende, mehr als die Geschichte überhaupt hat. Denn<br />

man muß diese Zeit mit der Zahl der betroffenen Individuen<br />

multiplizieren. Die Schülerselbstmorde, die Selbstmorde un-<br />

glücklicher Mädchen – wer zählte diese? Das „Statistische Jahr-<br />

buch“ vielleicht, aber nur so weit es dazu in der Lage war und<br />

der Arzt den Selbstmord nicht als „Unfall“ – „ist ins Wasser ge-<br />

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