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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1968 Eichhörnchenbesuch<br />

20. April<br />

Einen interessanten Brief erhielt ich von Seidel, dem Studi-<br />

enrat in Schwerte, der zur Zeit eine Kur im Allgäu durchmacht,<br />

so eine Art Hungerkur. Was da an sonderbaren Sachen in Schü-<br />

lerzeitschriften verbreitet wird, ist erstaunlich. Eine Censur<br />

scheint es dort nicht zu geben. Hier geht jede Traueranzeige<br />

in einer Zeitung durch eine Censurstelle, die auch gelegentlich<br />

den Abdruck verweigert, wie ich <strong>aus</strong> einem Falle weiß.<br />

29. April<br />

In der Zeit – Mitte Mai – will Irene 9 mal einige Tage zu mir<br />

kommen, falls die Einreisegenehmigung morgen da sein wird.<br />

Da sie nicht an einem andern Orte übernachten darf als die Ge-<br />

nehmigung angibt, kann sie natürlich nicht mit nach Leipzig<br />

kommen. Und eine „Genehmigung“ müßte man sich in Döbeln<br />

erst besorgen. Ob man sie erhielte, ist sehr unsicher und kostet<br />

einen Tag in Döbeln. Nach dem Konzert mit einer Taxe von Leip-<br />

zig nach <strong>Waldheim</strong> zu fahren dürfte sehr teuer sein, wenn man<br />

überhaupt einen Fahrer bekäme, was sehr fraglich ist. […]<br />

Von der Kirchensprengung 10 und dem Schweigemarsch stand<br />

bisher nichts in der Zeitung, obwohl doch diese Angelegenheit<br />

sehr viele Leute interessieren könnte und sonst von viel we-<br />

niger wertvollen Bauwerken lange Artikel verfaßt werden, z.B.<br />

von der Neu-Einrichtung eines Ausflugscafés. An den Platz von<br />

Kirche und Universität wird man vielleicht wieder einen großen<br />

Hotel-Kasten setzen, der durch teure Zimmerpreise das Geld<br />

wieder hereinbringen soll, das die Sache kostet. Vielleicht wird<br />

über diese Dinge nur in westlichen Blättern berichtet.<br />

9 Irene Strauß, <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Tochter, wohnte in Nürnberg.<br />

10 Gemeint ist die Leipziger Paulinerkirche, seit 1545 evangelische Universitätskirche,<br />

die trotz größten Widerstands am 30. Mai 1968 gesprengt wurde.<br />

222 223<br />

16. Mai<br />

Auf der Paßstelle war man bemerkenswert unfreundlich. Die<br />

Krawalle im Westen erhöhen hier das Selbstbewußtsein – ge-<br />

lernt hat niemand etwas, weder hier noch anderwärts. Kurs ist<br />

jetzt 100 Ostmark = 26,50 Westm. oder demnach eine West-<br />

mark 3,77 M Ost. Die Westler würden sehr billig in der Tschechei<br />

reisen, wenn nicht für jede Person 20 WM für die Einreiseerlaub-<br />

nis gezahlt werden müßte, für einen Wagen wird eine noch hö-<br />

here Gebühr verlangt. So gleicht sich dann das wieder <strong>aus</strong>, und<br />

die Prager dämpfen durch die hohe Gebühr die Lust, dahin zu<br />

fahren; sie schneiden sich damit in das eigene Fleisch.<br />

Eben sehe ich ein zweites Eichhörnchen auf meinem Fens-<br />

ter, es sieht licht rotbraun <strong>aus</strong>, während mein altes, das vor ei-<br />

ner Stunde da war, dunkelschokoladenfarbig ist. Ob das dunkle<br />

dem hellen den Ort beschrieben hat, wo etwas zu finden ist?<br />

Wer kann das wissen. Das neue trägt auch ganz hellbraune<br />

Handschuhe, während das erste schwarze Glacéhandschuhe<br />

angelegt hat. Neugierig sind beide, gucken dreist zum Fenster<br />

herein, schauen mich <strong>aus</strong> großer Nähe mit ihren großen Augen<br />

an und springen nur davon, wenn auf der Straße Leute kom-<br />

men. Körper und Schwanz sind ein schönes Spiel von Kurven.<br />

Ich lese jetzt die Lebenserinnerungen von Zuckmayer 11 , die<br />

mir <strong>aus</strong> Nürnberg zukamen, ein hochinteressantes Buch.<br />

Eben erscheint ein drittes Eichhörnchen, klein, schwarz –<br />

da muß doch eins dem andern etwas von dem Futterplatze ge-<br />

sagt haben! Die Gesichtszüge sind verschieden, dieses kleine<br />

hat eine ganz wenig anders gekrümmte Nase. Es erschrickt ge-<br />

waltig vor dem Knall in der Luft.<br />

Zuckmayer ist 1896 geboren, schildert also auch die Zeit,<br />

die ich durchlebte. Er hat das Sch<strong>aus</strong>piel von dem Hauptmann<br />

von Köpenick verfaßt und noch manche andere, ist vor den Na-<br />

11 Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir.

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