Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1970<br />
seum von Cassel hängende, von Rembrandt gemalte und bis<br />
heute unbekannte und rätselhafte Bruyningh ein Wort sagen<br />
wird, bleibt abzuwarten. In diesem Portrait erscheinen Klugheit<br />
und Güte in einer gewachsenen Verbindung; das ist nicht nur<br />
ein Meisterstück der Malkunst. Man sollte dieses Bild im Kon-<br />
ferenz-Saale <strong>aus</strong>stellen.<br />
Beim Empfange hörte man die Brüllmasse. Was mögen das<br />
für Leute sein, die sich zu „Sprechchören“ zusammenrotten?<br />
Das Wort „Sprechchor“ ist eine Verschönerungsvokabel. Ein<br />
zusammengeschaufelter Haufen von Sandkörnern ergibt kei-<br />
nen Granitblock, der nächste Wind formt ihn um. Daß die Po-<br />
lizei in Cassel so etwas wie das Zerreißen der DDR-Fahne vor<br />
den Augen der Gäste nicht verhindern konnte, ist eine sehr<br />
üble Sache, die ihre Folgen haben wird. Diese „Schutztruppe“,<br />
die ihrer Berufsaufgabe nicht gewachsen war, sollte wegen Un-<br />
fähigkeit auf das Pflaster gesetzt werden. Sie haben nur den re-<br />
aktionären Kräften geholfen, und denen besonders, die in der<br />
DDR gegen jede Annäherung von Ost und West sind. Aber wer<br />
kann feststellen, welche Leute hinter solchen Handlungen ste-<br />
hen! Vermutungen haben einen weiten Spielraum.<br />
30. Mai<br />
„Anti-autoritäre Erziehung“, das ist doch hier ähnlich, das zu<br />
sehen, braucht man nicht nach Amerika oder nach Westdeutsch-<br />
land zu gehen. Die Pariser Straßenschlachten im Studentenvier-<br />
tel beweisen, daß das auch dort so ist. Daß das alles Nachwir-<br />
kungen der autoritären Haltung im dritten Reiche sind, dürfte<br />
klar sein. Denn denen, die auf ihre Autorität pochten, weisen<br />
die Ruinen den Erfolg ihres Tuns nach. Kein Wunder, wenn der<br />
unter diesem Erbe leidenden Jugend keiner mehr imponieren<br />
kann. Sie hat echte Autorität nie erlebt, nur Anmaßung.<br />
286 287<br />
2. Juni<br />
Brüllmasse<br />
Das lärmende Getöse „moderner Tänze“ – vergleiche damit<br />
ein gut gespieltes Menuett von Mozart – haben diese Tanzkapel-<br />
len mit dem religiösen Tanzgelärme primitiver Volksstämme ge-<br />
meinsam. Bei diesen wächst dies auf dem Grunde beständiger<br />
Furcht vor bösen Geistern, die beständig das Leben bedrohen.<br />
Damit ist noch das Geläute der Glocken in seinem Ursprunge<br />
zu vergleichen, auch das Lärmen und Schießen in der Silvester-<br />
nacht, am 1. Mai, das früher bei der Geburt eines Prinzen oder<br />
einer Prinzessin übliche Abschießen von Kanonen, das Schie-<br />
ßen am Grabe eines Generals oder sonst eines „verdienten Offi-<br />
ziers“ – alles hat die gleiche Wurzel der Angst vor dem Bedroh-<br />
lichen des Wirkens unbekannter dämonischer Mächte. Dieses<br />
Kanonenschießen bei der Geburt eines Kindes im Königsh<strong>aus</strong>e<br />
hab ich in meiner Jugend des öfteren erlebt. Da wurden eifrig<br />
die Abschüsse gezählt: 101 Schuß bei der Geburt eines Prinzen,<br />
100 Schuß für eine Prinzessin. Selbstverständlich war schon vor<br />
80 Jahren keine Erinnerung mehr vorhanden an den Ursprung<br />
dieses alten Gebrauches. Vielleicht wurzelt das moderne Getöse<br />
sogenannter Musik in ähnlichen, nicht bewußt werdenden See-<br />
lentiefen, so eine Art unterdrückter Lebensangst. Das Gebrüll<br />
eines einzelnen oder einer Horde, die durch die Finsternis wan-<br />
dert, ein einsamer Straßenbummler, der zu später Stunde mit<br />
seinem Stock an die Bordkante schlägt, das Lärmen der Brüll-<br />
affen im Urwalde beim Einbruch der Nacht – das weist alles in<br />
die gleiche Richtung. Solange einer Radau macht, lebt er noch<br />
und beweist sich damit die Tatsache seiner Existenz. Alle Musik<br />
ist Ausdruck eines Gemütszustandes, den man sehr selten mit<br />
den Mitteln des Verstandes zu erklären sucht. Sobald sich einer<br />
damit befaßt, wird er zum Ketzer, der an heilige Bräuche rührt.<br />
Sogar bei dem sogenannten „Polterabend“ wirkt das gleiche<br />
Motiv: mit dem Lärm der zerbrechenden Töpfe sollen von der<br />
neuen Ehe die bedrohlichen Geister verscheucht werden. Nicht