Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1967 Kriegsbeschädigte Kinder<br />
spüren bekommen. 5 Unvergessen bleibt mir ein Nachtgespräch<br />
im November 1932 bei Berbigs, wo noch König und Quack da-<br />
bei waren und die ganze Gesellschaft meine Prognose als Kas-<br />
sandra-Rufe und Schwarzsehen belachte. Sie konnten dann<br />
später einsehen, daß ich nur Skizzen an die Wand projiziert<br />
hatte, als die Wirklichkeit auch über sie hereinbrach, bei dem<br />
einen früher, beim andern erst später. Und deshalb lese ich we-<br />
nig über diese Jahre, man kann mir kaum etwas Neues erzäh-<br />
len. Na, ich werde sehen, ob doch in diesem Buche etwas Über-<br />
raschendes gesagt wird.<br />
21. Oktober Sonnabend<br />
Das Buch der Ina Seidel, „Michaela“, las ich in wenigen Ta-<br />
gen durch. Es ist eine geschickte Arbeit, aber wer lernt etwas<br />
<strong>aus</strong> der Darstellung von Qualen vergangener Zeiten, die lei-<br />
der nicht so vergangen sind als es nötig und erwünscht wäre.<br />
Dummheit, Niedertracht, Bosheit werden täglich neu geboren.<br />
2. November<br />
In der Zeitung steht – hier – im Wortlaut eine Rede des<br />
Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrates Gerald Götting<br />
von der CDU über Luthers reformatorische Tat und ihre Bedeu-<br />
tung. Da wird den Ruhmrednern Luthers früherer Zeiten vorge-<br />
worfen, daß sie ihn mißbrauchten, ihre politischen Absichten<br />
zu untermalen – und dann tut der heutige Festredner dasselbe.<br />
Dieses Puppenspiel hätte man lieber nicht aufführen sollen.<br />
Mir bestätigt sich darin die alte Überzeugung, daß die Ge-<br />
schichte stets dasselbe Spiel vorführt, in veränderten Kostü-<br />
men und vor wechselnden Kulissen. Man muß zufrieden sein,<br />
auf diesem Theater nicht als Bühnenarbeiter beschäftigt zu<br />
sein. So ein Festredner hat es freilich nicht leicht.<br />
5 1933 Entlassung in <strong>Waldheim</strong>, 1934 Strafversetzung nach Zschopau, 1941–1943 Dienst-<br />
strafverfahren, 1943 Versetzung nach Oederan, s. auch Brief vom 19. März 1968.<br />
6. November<br />
Ich las wieder mal ein 1936 – also vor dreißig Jahren – er-<br />
schienenes Buch 6 von dem holländischen Gelehrten J. Huizin-<br />
ga, das erstaunlich prophetische Sätze enthält. Während des<br />
deutschen Überfalls wurde er in Holland festgenommen, als<br />
Geisel in ein Lager gebracht, dann krankheitshalber in einen<br />
Verbannungsort geschickt, wo er Februar 1945 starb. So wurde<br />
die Vernunft zerstört.<br />
7. November<br />
Bei Beantwortung des <strong>Briefe</strong>s von Seidel, der über die Un-<br />
rast der Studenten drüben schrieb, ist mir eins deutlich gewor-<br />
den: Die in den Jahren 1930–1950 zur Welt gekommenen Kin-<br />
der sind zu einem großen Teil als kriegsbeschädigt anzusehen,<br />
beschädigt nicht allein durch die materiellen Entbehrungen, de-<br />
nen sie <strong>aus</strong>gesetzt waren, als vielmehr durch die beständige<br />
Angst, in der bereits die Mütter vor der Geburt der Kinder leb-<br />
ten. In den westlichen Einzugsgebieten der Bombengeschwa-<br />
der – es sind die größten Industriezentren – war jede Nacht<br />
Alarm. Daß unter solchen Angstzuständen die sich bildenden<br />
Gehirne beeinträchtigt wurden, ist wohl klar, da in der gesam-<br />
ten Natur die feinsten und zuletzt entwickelten Gebilde zuerst<br />
gefährdet sind. Dann kamen Schulen, denen die Grundlage je-<br />
der Bildung – Stetigkeit – fehlte. Dazu das Überschüttetwer-<br />
den mit fertigen Urteilen <strong>aus</strong> allen Wissensgebieten in Zeitung,<br />
Radio, Kino, Fernsehen – alles Erziehung zur Oberflächlichkeit.<br />
Nicht zu vergessen ist der R<strong>aus</strong>ch, die Hybris, die sich <strong>aus</strong> der<br />
raschen Überwindung des Raumes mit Hilfe motorisierter Fahr-<br />
zeuge entwickeln müssen. Das sah bereits Goethe vor fast 200<br />
Jahren: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte<br />
6 Johan Huizinga, Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens<br />
unsrer Zeit. Deutsch von Werner Kaegi, Bern und Leipzig 1935.<br />
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