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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1968 „Ihr Kopf muß fallen!“<br />

3. März<br />

Seidel in Schwerte trägt sich mit dem Gedanken, nach sei-<br />

ner Pensionierung <strong>aus</strong> dem rauchigen Ruhrgebiet in eine ge-<br />

sündere Luft, etwa Bayreuth, zu übersiedeln. Am besten dürfte<br />

der daran sein, der mit seinem Flugzeug jeweils dahin fliegt,<br />

wo gerade Frühling ist, um dort ein angenehmes wirtshäusli-<br />

ches Leben zu führen. Dabei wird sich dann allmählich der Hun-<br />

ger nach Primitivität bemerkbar machen, den er durch den Be-<br />

such von Ausstellungen moderner Kunst zu stillen hat. Es ist<br />

doch für alles gesorgt. Ein neuer Beruf wäre „Diplom-Architekt<br />

für modernen Lebensstil“ – das wäre doch was für mich. Da<br />

könnte man durch Verarbeitung gegebener Wünsche – für teu-<br />

res Geld – „Lebenspläne für Genießer“ entwerfen. Aber „so was<br />

kommt nie an unsereinen“, sagte Dr. Schumann in Zschopau.<br />

5. März<br />

Bei der Erinnerung, daß ein großer Teil von West- und Süd-<br />

deutschland alter römischer Kulturboden ist, soll nicht verges-<br />

sen werden, daß das alte Österreich und die Schweiz auch auf<br />

römischen Kulturen erwachsen sind, daß Wien <strong>aus</strong> dem römi-<br />

schen Vindobona entstand, wo im Jahre 180 der Kaiser Marc<br />

Aurel, der Philosoph, starb, daß diese Kultur auch Steiermark<br />

und den Donaulauf bis zum Schwarzen Meere erfaßte, an des-<br />

sen Gestade Ovid begraben liegt. Auch hier wäre also die öster-<br />

reichische Kultur als Nachklang römischen Wesens aufzufassen.<br />

Die schreckliche Tatsache, daß wir in Ost- und Mitteldeutsch-<br />

land durch diesen blödsinnigen Sieg im Teutoburger Walde 6 im<br />

Jahre 9 um die Vorteile der römischen Kultur betrogen wurden,<br />

kann mich immer wieder aufbringen. Ebenso die völlig dumme<br />

Verherrlichung dieses Sieges in den Schulbüchern und den<br />

6 Hermann der Cherusker (Arminius) siegte dort über den römischen Heerführer Varus;<br />

damit scheiterte der Plan, die römische Reichsgrenze bis an die Elbe zu verlegen.<br />

deutschen Geschichtsschreibern, die offenbar die Erhaltung der<br />

Barbarei für einen Gewinn halten.<br />

218 219<br />

7. März<br />

Gestern geriet ich auf ein paar <strong>Briefe</strong>, die Rilke einem Wie-<br />

ner Kadetten 7 geschrieben, <strong>aus</strong>gezeichnete <strong>Briefe</strong>, die allein<br />

schon die Beurteilung, die Rilke von Literaturlehrern erfahren<br />

muß, als völlig irrsinnig erscheinen läßt. Wohin ist diese Welt<br />

geraten? Und welche Literatur wird verbreitet werden, wenn<br />

erst die „Zukunftslinien“, die Girnus ankündigt, verbindlich sein<br />

werden? Sollte in Eurer Zeitung am Sonnabend oder Anfang<br />

nächster Woche ein Bericht über den Vortrag von Girnus kom-<br />

men, so schick mir diesen. Daß es sich um Irrwegweiser han-<br />

delt, ist mir jedenfalls klar. Kunst ist nicht das Ergebnis verstan-<br />

desmäßiger Überlegungen oder politischer Lenkungsabsichten.<br />

Mich wird das nicht weiter lange interessieren. Daß damit<br />

das äußerste an Knechtschaft zu erreichen ist, möchte begrif-<br />

fen werden. Selbst das wird viele nicht berühren.<br />

19. März<br />

Heute vor 35 Jahren wurde ich <strong>aus</strong> dem Dienste getan,<br />

wurde mir von einer braunen, stark vergoldeten Uniform in Dö-<br />

beln in einem Keller gesagt: „Ihr Kopf muß fallen! Schade um<br />

den blendenden Kopf!“ Auch ein Gedenktag!<br />

Gestern – Montag – besuchte mich Dr. Toepel, so 5–6 h<br />

nachmittags, ohne mir die Erlaubnis zu geben, auf die Straße<br />

zu gehen. Er will morgen wieder kommen. Daß sich der Zustand<br />

gebessert hat, ist zu merken, wenn auch noch große Schwäche<br />

fühlbar bleibt. Diese Tabletten sind also wirksam. Bedrückend<br />

bleibt die Untätigkeit, dieses Nichtstun und bloße Dahindäm-<br />

mern, dieses „Sich-nicht-entschließen können“. Das ist der Zu-<br />

7 Die <strong>Briefe</strong> an Franz Xaver Kappus (1883–1966) erschienen unter dem Titel <strong>Briefe</strong> an<br />

einen jungen Dichter 1929 in der Leipziger Insel-Bücherei.

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