Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1976 Gestalten wie von Wilhelm Busch<br />
„das Seine“ zu retten. Berthold Körting 2 , ein in Europa arbei-<br />
tender Gartenarchitekt von einiger Berühmtheit, sagte mir bei<br />
einem Gang durch seinen Garten in Berlin: „In diesem Garten<br />
wird nichts gegossen und nichts gedüngt – da bleiben die Ge-<br />
wächse, die diesen Bedingungen ‚gewachsen sind‘.“ Das ist<br />
eine natürliche Auslese; am Leben bleibt, was den von dieser<br />
Natur gegebenen Bedingungen gewachsen ist. In der Wüste er-<br />
hält sich dann nur die Welwitschia mirabilis, die bei abnormer<br />
Dürre sich vom Boden löst und vom Winde an einen andern<br />
Ort bringen läßt, eine Pflanzenwanderung mit Hilfe der Luftbe-<br />
wegung.<br />
28. Mai<br />
Gestern war doch der im Westen noch gefeierte Himmel-<br />
fahrtstag, der hier nicht mehr Feiertag, weil der Himmel doch<br />
täglich vorhanden ist und Fahrten dahin nicht nötig sind. „Hier<br />
ist der Himmel auf Erden!“ Ich hörte einmal in einem Kloster<br />
in Vorarlberg (Kloster Wesemlin war das, in der Gegend von<br />
Feldkirch in der Schweiz) an diesem Tage eine Predigt mit dem<br />
Thema „Hier ist der Himmel auf Erden und hier ist die Pforte<br />
des Himmels“ 3 . Die Pförtner waren Mönche des Augustineror-<br />
dens. Nun, sie mußten in diesen Bereichen Bescheid wissen.<br />
Das Beste war der Gesang des Mönchschores. Und eine herrlich<br />
blühende Frühlingswiese mit blauem Salbei, von dem früher<br />
eine rot blühende Gartenform in städtischen Grünanlagen vor-<br />
2 Den Maler und Gartenarchitekten Berthold Körting (1883–1930), Mitglied im Deut-<br />
schen Werkbund, lernte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> vermutlich über Karl Foerster kennen, der<br />
in seinem Nachruf Neue Wege der Gartenkunst in der Zeitschrift Gartenschön-<br />
heit (November 1930) ein lebendiges Bild von Körting zeichnet. Körting wohnte<br />
in Potsdam-Neubabelsberg, Berliner Straße 124 (jetzt Rudolf-Breitscheid-Straße<br />
211); den angrenzenden Garten, den <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> besuchte, haben der Architekt<br />
Peter Behrens und Körting selbst in der Gartenschönheit (1926, S. 280–286)<br />
sehr eindrucksvoll beschrieben.<br />
3 Nach 1. Mose 28,17<br />
kam. Dieser blaue Salbei wächst auch auf Parkwiesen im Parke<br />
von Weimar; den roten sah ich mal in einer Anlage in Magde-<br />
burg, es ist schon sehr lange her, da regierte noch der Schwe-<br />
denkönig Gustav Adolf, der 1632 gefallen ist in einer Schlacht<br />
bei Lützen. Er war [so] unvorsichtig, auf einem Schimmel in die<br />
Schlacht zu reiten. Das Pferd hat mir leid getan.<br />
376 377<br />
29. Mai<br />
So ein Sonnabend hier verläuft wie einst vor 80–100 Jahren<br />
und noch länger zurück, wie ein damaliger Sonntag in England<br />
oder in der Lüneburger Heide. Die Straße bleibt völlig leer. Die<br />
Autobesitzer fuhren am Morgen irgendwohin, die Straße bleibt<br />
ohne Figuren. Kinder sind kaum vorhanden. Niemand führt ei-<br />
nen Hund <strong>aus</strong>, denn diese wurden selten und werden höchstens<br />
noch im Zoologischen Garten zu treffen sein oder sie fahren in<br />
einem Auto vorbei und schauen würdig <strong>aus</strong> dem Fenster. Vormit-<br />
tags kratzen manche jedes Unkraut weg, das längs der Mauer<br />
zu wachsen wagte. Es herrscht Ordnung. Malerische Gruppen<br />
von schwatzenden Frauen – wie sie Zille gelegentlich zeichnete<br />
– sitzen wahrscheinlich im Café. Irgendein alter Mann stakt mit<br />
seinem Stocke die Straße hinab, sich seine Sonntagszigarre zu<br />
holen oder zwei Stunden im Ratskeller zu sitzen oder im „Vete-<br />
ranenclub“ am Markte. Da laufen Gestalten, die Wilhelm Busch<br />
entworfen haben könnte. Und das ist doch schon recht lange<br />
her; denn W. Busch starb 1908, sofern ich recht erinnere.<br />
30. Mai<br />
Einige Tage – vier – sah ich keinen Menschen. Heute klin-<br />
gelts: einer, der 1911 in einer Klasse saß und in Stollberg im<br />
Erzgebirge lebt, besuchte mich. Das ist doch eine gehörige<br />
Weile her, wenn man das eigene Dasein als Maß der Zeit be-<br />
trachtet; an der Gesamtgeschichte gemessen ist es freilich eine<br />
kurze Zeit. Wie schnell wird doch ein kleiner Schuljunge zum