Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963 Die Normalstaatsameise<br />
richten. Es ließen sich auch eine Anzahl gescheiter Sprüche da-<br />
rin sammeln. […]<br />
Wer die Zeitungen beobachtete, konnte folgendes finden:<br />
1. Chrustschow sprach in Moskau über Politik u. Kunst u. Li-<br />
teratur<br />
2. Ulbricht " " Leipzig " " " "<br />
3. Eine Versammlung von Künstlern u. Schriftstellern in Berlin<br />
4. " " " " " in Dresden<br />
5. „Staatliche Kommission“ zur Gestaltung des einheitlichen<br />
sozialistischen Bildungswesens…<br />
Die ersten Berichte schickte ich Dir.<br />
Erstaunlich ist die Geschwindigkeit, mit der hier von der<br />
ersten rhetorischen Äußerung an die Revolution zu einer ge-<br />
setzlichen Formulierung und zu einer sachlichen Umgestaltung<br />
vorantreibt. Hier geschieht vor unsern Augen etwas ungeheuer<br />
Wichtiges, das sehr ernst zu nehmen ist! Aber wir sollen das<br />
ohne uns darüber aufzuregen zur Kenntnis nehmen. Und uns<br />
klar machen, daß die Ausbreitung des Christentums von Con-<br />
stantin bis Karl d. Gr., daß Humanismus und Renaissance ähnli-<br />
che Umbrüche des geistigen Lebens gewesen sind. Freilich wur-<br />
den weit weniger Menschen davon berührt.<br />
4. April<br />
In der Zeitung lag gestern ein Teil einer Rede eines Profes-<br />
sors Kurt Hager 7 vor Schriftstellern und Künstlern am 25. März.<br />
Ein H<strong>aus</strong>knecht oder SA Mann hätte von seinem Standpunkt<br />
<strong>aus</strong> das gleiche sagen können. Nur Machtanspruch – ohne<br />
Nachweis innerer Mächtigkeit. „Eine Fülle von Fragen taucht<br />
bei jedem Schriftsteller und Künstler im Zusammenhang mit<br />
7 Kurt Hager (1912–1998), Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros der<br />
SED. Am 24. und 25. März 1963 fand eine Beratung des SED-Politbüros mit<br />
Schriftstellern und Künstlern statt.<br />
seiner Arbeit auf, die er nicht allein lösen kann, für deren Klä-<br />
rung er die Diskussion braucht. Grundlage für die Lösung der<br />
neuen Schaffensfragen ist jedoch die Klarheit in den politisch-<br />
ideologischen Grundfragen.“ So steht da! Goethe – der auch<br />
widerrechtlich zitiert wird – hat also offenbar erst Betriebsbe-<br />
sprechungen mit seiner Belegschaft gehalten, ehe er an „Iphi-<br />
genie“ oder „F<strong>aus</strong>t“ heranging, da er ja die Fragen nicht allein<br />
lösen konnte. Es ist alles so trostlos.<br />
104 105<br />
23. April<br />
Eben brachte ich ein paar Zeilen für Dich zur Post und bei<br />
der Rückkehr finde ich zwei <strong>Briefe</strong> von Dir vom 11. und 12. und<br />
einen von Dr. Schumann vom 11.<br />
Daß Dein Eiervorrat aufgefrischt wurde, ist doch recht er-<br />
freulich, auch daß Du Dein Brathuhn hast (wie liest man Brat-<br />
huhn englisch?) 8<br />
Es freut zu hören, daß Stups so ein paar schöne Tage er-<br />
lebte statt einen geheuchelten Abituraufsatz über das „Leben“<br />
zu schreiben. Jeder ungetrübt verbrachte Tag ist noch in der Er-<br />
innerung zu genießen.<br />
Die Unterschiede in den Lehrmethoden der einzelnen Mu-<br />
sikhochschullehrer zeigen, daß dort die klare einheitliche Aus-<br />
richtung noch fehlt. Das ist also bisher den Vorschriftenma-<br />
chern entgangen, die doch nach und nach alles „normen“ bis<br />
die Normalstaatsameise her<strong>aus</strong>kommt, an der nichts mehr nor-<br />
mal ist. Rolland würde da wohl auch bedenklich werden, trotz<br />
seiner Neigung für Rußland, wo er einmal festlich empfangen<br />
wurde. Lenin wollte ihn für dauernd dahin mitnehmen, und Sta-<br />
lin begrüßte ihn. Aber als Rolland dann mal (oder mehrmals) an<br />
diesen schrieb wegen zweier unschuldig Gefangener, hat er nie<br />
wieder eine Antwort bekommen.<br />
8 Vermutlich Anspielung auf die in der DDR gebräuchliche Bezeichnung „Broiler“ für<br />
Brathähnchen.