Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963<br />
Schumann schreibt, daß er mich am 16.4. in Zschopau erwarte.<br />
Da bin ich aber in Moritzburg. Das verschiebe ich nicht –<br />
<strong>aus</strong> mehreren Gründen. Aber irgend wann in den nächsten Wochen<br />
muß ich schon mal nach Zschopau fahren. Man kann sich<br />
doch nicht zerteilen. Und wohin ich am liebsten führe – das<br />
sage ich niemand.<br />
Die Crocus im Erzgebirge, die zu besuchen die erste Absicht<br />
Schumanns war, haben sehr gelitten unter Frost und Dürre,<br />
auch in dem berühmten Crocusgebiet von Drebach, wo sie vor<br />
über hundert Jahren von einem Pfarrer angesiedelt worden<br />
sind. Damit hat er dem Wirtschaftsleben, besonders der Gastwirte,<br />
durch Jahrzehnte Gewinne eingebracht. Denn hunderte<br />
und hunderte von Autos und Autobussen zerfurchen schon seit<br />
Jahren um diese Zeit die Straßen und die ländliche Stille, um<br />
den Großstädtern einen kleinen Blick in „Natur“ zu verschaffen.<br />
Das stille Dorf hallt wider vom Gesange der Motoren aller<br />
Art – so wie das Talsperrengebiet als Magnet die Großstädter<br />
anzieht – bis durch die Verteilung auf viele T<strong>aus</strong>ende der Anteil<br />
des einzelnen am „Genuß“ so klein geworden sein wird, daß er<br />
nicht mehr zu merken ist. Und man fragt sich: „Weshalb sind<br />
wir bloß hierher gefahren?“<br />
28. April<br />
Wir werden versuchen, die in der Zeitung erwähnte Shakespeare-Bibliothek<br />
in der Weimarer Landes-Bibliothek uns einmal<br />
anzusehen. Wenn wir auch nicht dazu kommen werden, sie<br />
durchzulesen – es ist jedenfalls gut, mal zu sehen, was da alles<br />
vorhanden ist. Hoffentlich sind die Bücher da bereits zugänglich<br />
aufgestellt und nicht im Magazin gestapelt. Auch das Naturkunde-Museum<br />
in der alten Herder-Schule sahen wir bisher noch<br />
nicht. Es ist also doch noch einiges vorhanden, Dir die Langeweile<br />
zu vertreiben. Dafür muß man als Reiseleiter sorgen.<br />
Ich lege diesem <strong>Briefe</strong> einen Aufsatz von Karl Foerster bei,<br />
„April-Mahnung“, den Du aufheben magst, wenn Du ihn gele-<br />
Thomas Manns „Dr. F<strong>aus</strong>tus“<br />
sen hast. Es ist eine sehr schöne Reihe von guten Anregungen.<br />
Ich staune immer wieder über die geistige Spannweite und die<br />
Ausdruckskraft dieses 89jährigen Mannes, von dem so viel zu<br />
lernen ist. Der ist nicht auf dem Motorrad an „Sehenswürdigkeiten“<br />
vorüber gerast. Jedenfalls heb den Aufsatz auf, er ist<br />
es wert, öfter gelesen zu werden. Denkt man da an so einen<br />
armen Biologielehrer wie den von Stups, der die Existenz der<br />
Schwanzmeise bezweifelt – dann merkt man, daß gleichzeitig<br />
im selben Lande Leute leben, die durch 100 000 Jahre Entwicklung<br />
getrennt sind. Und vielleicht ist sogar der Mensch der Eiszeit<br />
in der Natur besser zu H<strong>aus</strong>e gewesen.<br />
2. Mai<br />
Daß der „Dr. F<strong>aus</strong>tus“ schwer zu lesen ist – das wird niemand<br />
bezweifeln, der nicht gerade ein Flachkopf ist. Schon<br />
die sehr merkwürdige Architektur des Buches: es wird <strong>aus</strong><br />
zeitlich verschiedenen Kulissen gesprochen; im Theater kann<br />
man durch räumliche Kulissen gleichzeitig Geschehendes überschaubar<br />
machen. (Denke an die Apfelschußscene im „Tell“, wo<br />
gleichzeitig das Gespräch Rudenz’ mit Bertha den Zuschauer<br />
faßt.) Hier zieht durch das ganze Buch der sonderbare Stil, daß<br />
stellenweise der etwa 1942/43 schreibende Autor von den Sorgen<br />
seiner Tage spricht, und dann kehrt er zu seinem Hauptthema<br />
zurück, zum Schatten Nietzsches um die Jahrhundertwende.<br />
Er erzählt das Geschick eines hochbegabten aber kranken<br />
Menschen, den er als Vertreter eines Zeitalters auftreten<br />
läßt. Und wenn Du am Schlusse – Aufhebung und Zurücknahme<br />
der „9. Symphonie“ – das Buch an die Wand werfen willst – so<br />
war es mir zu Mute, als ich es vor Jahren zum ersten Male las<br />
– dann denke nicht nur an die Mühe, es neu zu binden, sondern<br />
daran, daß es ein Geisteskranker, ein Paralytiker ist, der<br />
das spricht – und der damit einer kranken Zeit das Urteil verkündet.<br />
Daß es keine angenehme Lektüre ist, kein erholsames<br />
Buch – das hab ich Dir gesagt. Es ist ein ungeheurer Krank-<br />
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