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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1962 Albert Schweitzer<br />

ihn auffordern, „sich neu zu kleiden“ – warum? Um seine Auf-<br />

merksamkeit von Wesentlichem auf Unwesentliches abzuleiten.<br />

Die wenigsten wissen oder ahnen, was mit ihnen alles ange-<br />

stellt wird, kriegen völlig unnötige Sorgen aufgehalst und las-<br />

sen sich treiben und jagen.<br />

5. Juli<br />

Den „Wilhelm Meister“ (über 1000 Seiten) hab ich nun wie-<br />

der einmal durchgelesen. Schillers Begeisterung über dieses<br />

schöne Werk ist mir heute noch verständlich. Wie viel Erleb-<br />

tes, Autobiographisches ist da hinein gebaut. Und welche Fülle<br />

gediegener Lebenserfahrung ist in klugen Sätzen kristallisiert.<br />

Es ist ein großer Fehler gewesen, nicht in jenen Jahrzehnten in<br />

Weimar gelebt zu haben. Ich hätte doch einen guten Prinzen-<br />

oder Prinzessinnenerzieher abgegeben. Die Leute wären dabei<br />

auch in gute Gesellschaft gekommen. Goethe hätte ein Modell<br />

mehr gehabt für sein Figurenkabinett. Das ist nun alles in der<br />

Weltgeschichte <strong>aus</strong>gefallen.<br />

Jetzt lese ich nun die Bemerkungen zu „Wilhelm Meister“,<br />

die – von Goethe selbst stammend – im Gräf 12 zusammenge-<br />

stellt sind, wo sie 375 Seiten einnehmen. Es ist eine ungeheuer<br />

fleißige und genaue Arbeit, in der alle Erwähnungen des Wer-<br />

kes, die bei Goethe in <strong>Briefe</strong>n oder Gesprächen aufzufinden<br />

waren, in zeitlicher Folge zusammengestellt sind. Man schaut<br />

da in die Werkstatt des Dichters und entdeckt Beziehungen<br />

und Hinweise, die für das Verständnis des Ganzen sehr wertvoll<br />

sind. V. Buch, 1. Kapitel: Serlo „pflegte zu sagen: ,Der Mensch<br />

ist so geneigt, sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und<br />

Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schö-<br />

nen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit, es zu emp-<br />

12 Hans Gerhard Gräf (Hg.), Goethe über seine Dichtungen. Theil 1, Bd. 2: Die epischen<br />

Dichtungen, Frankfurt am Main 1902.<br />

finden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen sol-<br />

chen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Un-<br />

gewohntheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele<br />

Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es<br />

nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte‘, sagte er, ,alle Tage<br />

wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein<br />

treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen<br />

wäre, einige vernünftige Worte sprechen.‘“<br />

86 87<br />

8. Juli<br />

Winterliche Kleidung ist anzuraten, da Ihr ja nicht die Fä-<br />

higkeit habt, das Wetter günstig zu gestalten, das von andern<br />

Leuten nach „genauester wissenschaftlicher Überlegung“ ver-<br />

saut wird. Daß Albert Schweitzer auf die Gefahr der Beschä-<br />

digung der Atmosphäre ernstlich hingewiesen hat, freut mich<br />

sehr, besonders weil dieser Gedanke mir seit Jahren geläufig ist<br />

und von denen nicht widerlegt – sondern nur belächelt werden<br />

konnte, die der „Wissenschaft“ frönen. Man wird natürlich auch<br />

dem Urwalddoktor die Berechtigung absprechen, über diese<br />

Experimente als „Nicht-Fachmann“ sich Gedanken zu machen<br />

und diese zu verbreiten. […]<br />

Beim Lesen des „Wilhelm Meister“, auch des erst 1910 aufge-<br />

fundenen ersten Entwurfes „Wilhelm Meisters theatralische Sen-<br />

dung“ merkt man erst, was man dem Leser im 18. Jahrhundert<br />

zumuten konnte. Und ferner: neben diesen Sachen erscheinen<br />

mir viele heutige etwa wie Maulwurfshaufen am Matterhorn.<br />

24. Juli<br />

Gespräch auf der Polizei wegen einer Einreise: „Warum ist<br />

er denn damals illegal nüber?“ – „Sein Musikprofessor war hin-<br />

übergegangen, bei dem er weiter studieren wollte.“ – „Na, das<br />

hättr nich needch gehabbt, wo mir doch ooch große Mussiger<br />

ham, wie Bach zum Beischbiel.“

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