Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1970
18./19. März
Das heutige Erfurter Gespräch 7 weckt die Erinnerung an den
Fürstentag, den Napoleon 1808 in Erfurt abhielt, oder an 1181,
als sich in dieser Stadt Heinrich der Löwe vor Friedrich Barba-
rossa demütigte, oder an 1290, da Rudolf von Habsburg dort
residierte, Streitigkeiten schlichtete und 29 Raubritter enthaup-
ten und 66 Burgen zerstören ließ. Man befindet sich also in ei-
ner Stadt mit bedeutender Vergangenheit. Wir wollen nur hof-
fen, daß da alles gut abläuft.
Im Radio ist eine stürmische Begrüßung in Erfurt zu hören,
die kaum im Programm vorgesehen war. Trotz aller Absperrun-
gen sind nach Angaben eines Reporters 1000–1500 Menschen
auf den Platz am Erfurter Bahnhof vor das Hotel geflutet und
rufen: „Willy Brandt an das Hotel-Fenster“.
20. März
Staunenswert bleibt die Leistung von Brandt, der am Mitt-
woch abend 8 h von Bonn abfuhr, am Donnerstag früh 9 29 in Er-
furt eintraf, schwierige Verhandlungen führte, nachmittags ½ 5 h
nach Buchenwald fuhr, am Abend in Erfurt weiter konferierte,
nach 10 h abends nach Bonn abreiste, früh dort ankam und
heute früh ½ Stunde nach Verlassen des Zuges vor dem Bundes-
tag seinen Bericht gab und die Debatte anzuhören hatte. Das ist
doch schon rein physisch eine starke Anforderung, ganz abge-
sehen von der unausgesetzten Wachsamkeit auf jedes Wort.
17. April
Es wird berichtet, daß die Russen und auch andere Völker
Marine-Einheiten anweisen, den Meeresteil aufzusuchen, wo
das Ankommen des Mondfahrzeuges erwartet wird, um dort,
7 Erstes innerdeutsches Gespräch zwischen dem Bundeskanzler Willy Brandt (1913–
1992) und dem Ministerpräsidenten der DDR Willi Stoph (1914–1999).
falls nötig, Hilfe zu leisten. Diese Tatsache ist wohl von ho-
her Bedeutung: Mächte, die zum Teil zerstritten sind, verbin-
den sich zu einer gemeinsamen Hilfeleistung. Es zeigt sich da,
daß dieses Mondforschungs-Unternehmen außer seiner wis-
senschaftlich-technischen eine hohe emotionale Bedeutung ha-
ben kann, daß dem Verlust an möglichem Erkenntniszuwachs
(infolge des Betriebsschadens) ein Gewinn an Bereitschaft zu
internationaler Zusammenarbeit gegenübersteht, der einen
neuen Anfang in der Vereinigung der Völker einleiten kann. Und
Du kannst sagen: Ich bin mit dabei gewesen. 8 Es ist durchaus
denkbar, daß in Jahrzehnten in einem Geschichtsbuche diese
Mondfahrt am Anfang einer neuen Geschichtsperiode verzeich-
net werden wird. So wie die Entdeckung Amerikas 1492 durch
Columbus den geographischen Horizont erweiterte, könnte hier
eine neue Epoche in der Entwicklung menschlicher Beziehun-
gen eingeleitet werden.
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19. Mai
Es wurmt mich immer, daß ich nicht fähig bin, ungehemmt
mit Dir über Berg und Tal und durch Feld und Flur zu streifen.
Und das alles nur wegen des Herzschadens, den ich mir in den
Jahren von 1933 zugezogen habe. Welche quälende Mühsal mir
da aufgeladen wurde, kann nur einer empfinden, dem es ähn-
lich ergangen ist. Und wieviele sind das, auch Opfer des Fa-
schismus, ungezählte.
21. Mai
Heute ist also der vielleicht denkwürdige Tag der Begeg-
nung 9 in Cassel. Ob dabei ein so kluger Mann, wie der im Mu-
8 In Anlehnung an Goethes Worte in der Campagne in Frankreich: „Von hier und heute
geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid da-
bei gewesen.“
9 Gegenbesuch von Willi Stoph in der Bundesrepublik Deutschland.
Innerdeutsche Gespräche