Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1972
Von den damaligen Mitarbeitern lebt nur noch Herr Morgenstern.
Wir hatten damals über 300 Hörer, bis die Nazis im März
1933 die Sache zerschlugen. „Alles im Leben ist nur für eine
Spanne Zeit.“ 24
14. September
Die Überlegungen zu dem Kolbetexte, die ich nur im Kopfe
wälzte, beginnen langsam sich zu ordnen. Nun will ich mir erst
mal dann Schreibmaschinenpapier zu kaufen suchen – wenn es
so etwas gibt. Das ist keineswegs sicher. Sonst muß ich dieses
gelbliche verwenden, auf das ich eben schreibe.
26. September
Heute hoffe ich den Kolbe-Aufsatz 25 so weit zu beenden,
daß ich ihn für die Abschreiberin noch auf der Maschine einmal
schreibe. Denn ich möchte meine Handschrift nicht zum Entziffern
weiter geben. Ende Oktober erhalte ich die Kopien der Bilder
von Frl. Rieger. Dann mache ich die Mappen fertig. Da gibt
es wieder einen Engpaß, der heißt Pappdeckel! Wahrscheinlich
beziehe ich diese aus dem Westen, wohin sie vielleicht erst exportiert
worden sind. Sokrates hatte schon recht, zu sagen, das
Beste sei ein ungestörter, tiefer Schlaf.
4. Oktober
Daß der gespreizte Stil in der besagten Hesse-Biographie 26
abschreckend wirkt, kann jeder merken. Und vielleicht ist es
Absicht und Auftrag des Schreibers, unter dem Schein moderner
„Wissenschaftlichkeit“ den Dichter Hermann Hesse so darzustellen,
daß Leser, die es aushalten, das Buch zu Ende zu lesen,
am Schlusse doch vorläufig genug haben und aufhören –
24 Aus der Erzählung Pole Poppenspäler von Theodor Storm.
25 Für den von Arthur Pfeifer verfaßten und selbstgebundenen 15-seitigen Aufsatz Ge-
org Kolbe fertigte die Waldheimer Fotografin Ilse Rieger die Reproduktionen an.
26 Eike Middell, Hermann Hesse. Bilderwelt seines Lebens, Leipzig 1972.
oder gar nicht damit anfangen, Hesses Werke selber zu lesen.
Da wirkt diese „Abwehr-Literatur“ ganz brauchbar: es werden
manche darauf verzichten, sich Hesse-Bücher hereinschicken
zu lassen. Das ist doch brauchbarer als das Konfiszieren oder
Zurücksenden von Päckchen, die hereingeschickt werden (mit
Hesse-Büchern). Die scheinbare „Objektivität“ des Berichtes ist
keine kleine Sache, der Verfasser hat sich ganz hübsch angestrengt,
dem Leser den Blick zu verwirren.
8. November
Nun [aus Nürnberg zurück] ist zu bedenken, wie ich ein
paar Bananen und andern Krimskrams in Deine Hände geben
kann; nach ängstlichen Vermutungen – das ist schon der richtige
Ausdruck für die Begleitgefühle beim Überschreiten der
Grenze – weil man nie weiß, was alles den Leuten einfallen
kann, ging alles wider Erwarten gut. Es scheint, die Ost-West-
Verhandlungen waren bereits teilweise wirksam, denn die Zöllner
erschienen überhaupt nicht, es wurde nur nach Pässen und
Geld gefragt. Das hätte man vorher wissen sollen; leider läßt
sich in diesen Dingen noch weniger etwas voraussagen wie bei
der Wetterbeurteilung.
18. Dezember
Nebel und grauer Himmel. Wer dieser „Ganzheits-Psychologe“
war – ja, das weiß ich nicht. Es gab da einen Professor
Felix Krüger 27 , mit dem ich mal scharfe Klingen kreuzte, wobei
sich Litt 28 auf meine Seite stellte.
27 Der Philosoph und Psychologe Felix Krüger (1874–1948), Nachfolger von Wilhelm
Wundt in Leipzig, war der Begründer der Zweiten Leipziger Psychologenschule auf
der Grundlage der genetischen Ganzheits- und Strukturpsychologie (1917).
28 Theodor Litt (1880–1962), Professor für Philosophie und Pädagogik in Leipzig,
Nachfolger von Eduard Spranger veröffentlichte 1920 in Leipzig seine Schrift Be-
rufsstudium und „Allgemeinbildung“ auf der Universität.
„Abwehrliteratur“
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