Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1974 Sprachkunstwerke und Naturwunder<br />
niglichen Hoftheater Dresden – mit bedeutenden Sch<strong>aus</strong>pielern<br />
– sah ich 1899 auf dem „Rennplatz“ im III. Rang für 0,60 M.<br />
Es gab in der Mitte des III. Ranges zwei Stehplätze. Da stellte<br />
man sich ½ 4 h nachmittags an, ½ 6 h begann die Vorstellung,<br />
und die versammelten Zuschauer rasten im Wettlaufe die drei<br />
Ränge hinauf, einen dieser Plätze zu ergattern. Die Vorstellung<br />
dauerte über 5 Stunden, weil es weder Drehbühne noch Ver-<br />
senkbühne damals gab, und dadurch wurden P<strong>aus</strong>en nötig.<br />
12. August Montag<br />
Das Wetter ist hier wieder trübe mit gelegentlichen Schau-<br />
ern. Ob das „Eichbergfest“ daran schuld ist? Die Anziehungs-<br />
kraft dieser Volksbelustigung scheint ziemlich groß zu sein; auf<br />
dem Markte und an Straßenrändern standen sehr viele Autos.<br />
Dann ist wohl der Zweck erreicht, der doch „Geldbeschaffung“<br />
für den „Verschönerungsverein“ vor Jahren bereits war. Nur<br />
über das, was unter „Verschönerung“ verstanden wird, scheint<br />
man unter sich nicht klar zu sein. „Schön“ ist es jedenfalls<br />
nicht, daß vor dem architektonisch besten Bau 4 der Stadt, der<br />
vom Sohne Sempers erbauten Girokasse, wo das wertvollste<br />
Kunstwerk der Stadt steht – die „Große Knieende“ von Kolbe<br />
– ein großes Parolen- oder Reklameplakat den Blick verdeckt.<br />
Aber diesen Ban<strong>aus</strong>en ist doch nicht beizukommen.<br />
2. Oktober<br />
Aus der Nürnberger Zeitung erhielt ich einen Bericht über<br />
eine sechs Tage dauernde Aufführung in Dornach (Schweiz), wo<br />
eine ungekürzte Darstellung von „F<strong>aus</strong>t I“ und „F<strong>aus</strong>t II“ geboten<br />
worden ist: 5000 Hörer <strong>aus</strong> der ganzen Welt. Nebenbei erwähnte<br />
4 Das Gebäude, das Elemente des Klassizismus und des Jugendstils vereint, war ur-<br />
sprünglich ein Hotelbau (Hotel Deutsches H<strong>aus</strong>), erbaut 1870 von Manfred Sem-<br />
per (1838–1913); ab 1920 diente es als städtische Sparkasse; s. auch Brief vom<br />
24. Dezember 1965.<br />
der Reporter: „Die Albernheit, mit der der 225. Geburtstag Goe-<br />
thes in der deutschen Öffentlichkeit vielfach gefeiert wurde, läßt<br />
den Verdacht entstehen, daß wir uns dieses störenden, weil tie-<br />
fen Geistes bewußt und endgiltig entledigen wollen.“<br />
14. Oktober<br />
Das Gerede, der zweite Teil von Goethes „F<strong>aus</strong>t“ sei ein<br />
unverständliches „Alterswerk“, ist nur ein dummes Geschwätz<br />
von Leuten – auch Professoren – denen es an Fleiß fehlte, den<br />
allerdings oft sehr verschlungenen Gedankenwegen Goethes zu<br />
folgen; sie sind zu faul sich anzustrengen, zu unwissend, die<br />
reichen Beziehungen des Werkes, das einen Zeitraum von drei-<br />
t<strong>aus</strong>end Jahren umfaßt, zu entdecken und die Geheimnisse zu<br />
entziffern. Ich bin gespannt darauf, zu merken, ob es gelingen<br />
wird, das einigermaßen verstehbar zu deuten. Es muß vor al-<br />
lem erreicht werden, daß der Leser nicht den Mut sinken läßt,<br />
sich anzustrengen. Das muß allerdings gefordert werden – der<br />
Schöpfer des Werkes hat es doch vorgeleistet.<br />
Das ist bei der Naturbetrachtung nicht anders, einer freut<br />
sich, <strong>aus</strong> der Ferne große blühende Phloxfelder zu sehen, der<br />
andre stellt sich Zweige davon in die Vasen, der dritte beob-<br />
achtet in seinem Garten das Wachstum, der vierte untersucht<br />
Einzelheiten mit dem Mikroskop und schließlich bemühen sich<br />
andere, durch gelenkte Züchtungsversuche zu neuen Sorten zu<br />
kommen – aber überall bleibt als Vor<strong>aus</strong>setzung der Fleiß, das<br />
Bestreben, sich um immer tieferes Erkennen zu bemühen. Also<br />
gleichviel, ob einer in die Sprachkunstwerke von Shakespeare<br />
oder Goethe einsteigt oder ob er irgendwelchen Naturwundern<br />
bis in alle erkennbaren Einzelheiten nachgeht. Das war es, was<br />
Goethe vor vielen anderen vor<strong>aus</strong> hatte: sich keine Mühe ver-<br />
drießen zu lassen – und dies bis zum letzten Tage, wie der Brief<br />
an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832 beweist. 5<br />
5 S. Brief vom 23. Februar 1972.<br />
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