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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1965 Kinder kehren die Schulzimmer<br />

in einer Druckerei, die einem römischen Nonnenkloster ge-<br />

hörte, der Boccaccio gedruckt werden konnte – bis auf eine<br />

Geschichte – in dem doch an der herrschenden Pfaffenklasse<br />

eine derbe Kritik geübt wird, wenn das „Lob der Torheit“ des<br />

Erasmus in vielen Auflagen sich erhalten konnte, dann ist das<br />

doch Beweis genug für eine recht duldsame Kritik. Es sollte<br />

mal heute jemand derartige Zeituntersuchungen anstellen! Das<br />

mindeste wäre, daß er überhaupt keinen Drucker fände, kein<br />

Papier bekäme. Die Feen- und Zaubergeschichten der Romantik<br />

als Flucht <strong>aus</strong> der unerträglichen Umwelt anzusehen, halte ich<br />

für primitiv. Solche Fluchtversuche sind heute nicht mal mög-<br />

lich – und dar<strong>aus</strong> schließt man, daß alles Gegenwärtige sehr in<br />

Ordnung sei. Auf der weiten Flur der papierenen Welt ist kein<br />

verdächtiges Rascheln zu hören. Man frage, warum nicht!<br />

30. März<br />

Daß Du bereits „Briefmarkenexperte“ bist – das ist sehr zu<br />

bestaunen. Was Du nicht alles noch lernst. Ich werde Deine An-<br />

weisung beachten. Gestern durchwühlte so ein Briefmarken-<br />

forscher den in der Post stehenden großen Papierkorb, wahr-<br />

scheinlich in der Hoffnung, dort etwa weggeworfene Marken zu<br />

finden. Was bloß die Leute zur Goethezeit gemacht haben mö-<br />

gen, als es noch keine Briefmarken gab, kein Kino, kein Radio,<br />

kein Fernsehen, kein Auto, keine Eisenbahn, keine H<strong>aus</strong>halts-<br />

maschinerie. Kein Wunder, daß sie nicht mehr leben, sie sind<br />

vor Langerweile gestorben. Fußball und Sportolympiaden hat-<br />

ten sie auch nicht – ja, was hatten sie denn überhaupt?<br />

Ich las wieder mal etwas von Wilhelm Busch. Seltsam – er<br />

schreibt mal: „Wie langweilig ist der Briefwechsel mit Frau von<br />

Stein, wo es sich immer ums Essen und Trinken handelt.“ 6 Daß<br />

die frühen Erdbeeren und Spargel, die Goethe <strong>aus</strong> seinem Gar-<br />

6 Aus Gesprächen. In: Sämtliche Werke. Bd. 7, München 1943, S. 439.<br />

ten der Frau von Stein schickt, nur Masken seiner Liebe sind –<br />

das ist dem Busch nicht aufgegangen.<br />

22./23. April<br />

Kein Mensch kann sagen, ob überhaupt und welchen Sinn<br />

diese sogenannten „Gewerkschaftswahlen“ haben. Man steckt<br />

vier Zettel mit Namen unbekannter Leute in einen Pappkarton.<br />

Welchen Zweck der FDGB habe? „Die ideologische Ausrichtung<br />

seiner Mitglieder.“ Die Beiträge sind offenbar das Honorar für<br />

eine unerwünschte Gehirnmassage. – Ich guckte mal in das<br />

Zimmer 27, wo ich vor 57 Jahren hier anfing: da wurden Jun-<br />

gen mit Gewehrschießen gedrillt. Und als ich *** traf, sagte der:<br />

„eine halbe Stunde vorher hätten Sie die Kinder beim Kehren<br />

des Zimmers antreffen können; es gibt keine Kehrfrauen.“ Seit<br />

dem Gesetz von 1873 war es verboten, <strong>aus</strong> gesundheitlichen<br />

Gründen, Kinder die Schulzimmer kehren zu lassen. Daß man<br />

bei dem Hochstand der Technik mindestens für jedes Stock-<br />

werk einen starken Hotelstaubsauger einstellen sollte, kommt<br />

diesen „Jugenderziehern“ nicht in den Sinn. Was da als „Wand-<br />

schmuck“ herumhängt – armselig. Ob das Kinder interessieren<br />

kann – ich vermag mir das nicht vorzustellen.<br />

Die Kohlen liegen vor der Tür, hoffentlich kommen nun<br />

auch die zugesagten Kohlenträger von der Irrenanstalt, die ich<br />

als rettende Engel begrüßen werde. Ich schreibe an ***, er soll<br />

einen Vorschlag in seiner Dienststelle vorbringen, den ich vor<br />

39 Jahren machte, der aber damals als verstiegen und großspu-<br />

rig angesehen wurde: 1) ein Kollege und eine H<strong>aus</strong>frau besich-<br />

tigen in einem großen modernen Hotel die dort geübten Me-<br />

thoden der Zimmerreinigung, 2) für jedes Stockwerk der Schule<br />

wird mindestens ein starker großer Staubsauger beschafft, der<br />

in dem Stockwerk bleibt und nur von Zimmer zu Zimmer geht.<br />

Vielleicht bestätigt dann in absehbarer Zeit der Röntgenappa-<br />

rat, daß das richtig ist.<br />

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