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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1970<br />

17. Dezember<br />

„Mein Vater ist ein Appenzeller –<br />

er frißt den Kas mitsamt dem Teller!“ 15<br />

Eben wird das Lied im Radio gesungen, es erinnert mich,<br />

daß das meine Mutter in meiner frühen Jugend – ich war so<br />

etwa sechs Jahre – ab und zu sang. Eben höre ich „Die Schellen<br />

klingen rein und hell“ und noch manch andres Volkslied,<br />

das damals zuweilen Vater und Mutter gemeinsam sangen. Das<br />

liegt nun mehr als 80 Jahre in der Vergangenheit. Da gab es<br />

ein handschriftliches Liederheft meines Vaters, es ist 1945 in<br />

Dresden mit vernichtet worden bei der Zerstörung der Stadt.<br />

Das hätte ich jetzt gern. Es war ein Denkmal der heute so geschmähten<br />

„kleinbürgerlichen“ Kultur, die nach ihrer Zerstörung<br />

durch Chansons und Jazz ersetzt wurde. Nur glaub ich<br />

nicht an den „Ersatz“. Wenn die Musik nicht so miserabel wäre,<br />

könnte man sich über die ärmlichen Texte trösten.<br />

31. Dezember<br />

Ich hörte einige Worte von Menuhin. Er leitet in London<br />

eine Musikschule für junge Kinder und setzt dabei vor<strong>aus</strong>: Musikalische<br />

Begabung – Fähigkeit zur Stille – und Begabung zum<br />

Fleiß, womit er sich mit Goethe trifft, der den Satz prägte: „Genie<br />

ist Fleiß“ 16 , was manchem fremd scheint. Es trifft aber das<br />

Wesentliche. Die wenigen Worte dieses großen Geigers lassen<br />

den Plunder vergessen, der von moderner Pädagogik dargeboten<br />

wird, die in den hohlen Nußschalen neu konstruierter Wörter<br />

das absolute Nichts anzubieten hat. Höchstens eine sehr<br />

gesteigerte Anmaßung.<br />

Mit der modernen Musik von Stockh<strong>aus</strong>en kann ich nichts<br />

anfangen. Dieser Lärm ist der Widerhall des Zusammenbruchs<br />

einer alten Kultur.<br />

15 Verballhornung des volkstümlichen Schweizer Liedes: „Mein Vater ist ein Appenzel-<br />

ler ... Hat weder Most noch Wein im Keller…“<br />

16 Sprichwörtliche Redensart, in Goethes Schriften nicht belegt.<br />

294 295<br />

1971<br />

7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 9. Januar<br />

Der Mondschein, der wieder die Nacht erhellte und den<br />

Schlaf raubte, veranlaßte, daß ein ganzes Adreßbuch von Na-<br />

men durch das Gedächtnis zog. „Von Adele bis Xantippe“ („Von<br />

Adam bis Zebedaeus“) könnte man ein Namenbuch betiteln,<br />

das zu einem kleinen Lexikon anwachsen könnte, wenn man<br />

diesem und jenem Namen dazugehörige Anmerkungen beifügte.<br />

„Elisabeth“: da könnte von der heiligen Elisabeth erzählt wer-<br />

den und von der englischen Königin der Shakespearezeit. No-<br />

men est omen – wer dann die Geschichten liest, wird seine Kin-<br />

der lieber mit einer Nummer bezeichnen, um sie nicht mit ei-<br />

nem Namen vorher zu belasten. Da hieß mal ein Kollege „Eli“<br />

– wie so ein Hoherpriester im Alten Testament; zeitlebens war<br />

ihm sein Name zuwider. So etwas hat negative psychologische<br />

Wirkungen. Oder „Thomas“! Da ist zuerst der Ungläubige des<br />

Neuen Testamentes, dann Thomas Becket, der 1170 in Canter-<br />

bury ermordete Erzbischof, Thomas Morus, Lordkanzler Hein-<br />

richs VIII. (von diesem umgebracht), Thomas von Aquino † 1274,<br />

der Dominikaner und Begründer der scholastischen Philosophie<br />

– und dann „Thomas Mann“! Freilich ist das nur für Einfältige,<br />

denen das alles einfällt. Ich vergaß Thomas Müntzer. […]<br />

Heute erhielt ich einen Brief in einer klaren, mir zunächst<br />

unbekannten Schrift; eine in der Nähe von Zürich lebende frü-<br />

here Schülerin <strong>aus</strong> Zschopau schreibt da: „Lebhaft erinnere ich<br />

mich noch der Schulstunden vor 35 Jahren, ich war in der 3. u.

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