Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1965<br />
24. April<br />
Den „Demian“ von Hesse bringe ich Dir mit. Vielleicht findet<br />
sich „Siddhartha“ wieder. Daß ich es verliehen habe, ist<br />
<strong>aus</strong>geschlossen, da es hier Bücher gibt, die außer Dir niemand<br />
von mir bekommt. Dazu zählen alle Hessebände und gewisse<br />
Rara der Goethezeit wie die <strong>Briefe</strong> von Merck, der Briefwechsel<br />
mit Jacobi, Goethes mit Christiane, Kestners <strong>Briefe</strong> <strong>aus</strong> der<br />
Wertherzeit, <strong>Briefe</strong> von Goethes Mutter, Gräfin Stolberg, Lavater,<br />
Schultz, Meyer, Zelter, Riemer, Sophie von La Roche, Graf<br />
Sternberg, Döbereiner, Stein, Carl August, Ottilie, Voigt, Runge,<br />
Trebra. Du wirst kaum so viel Stühle haben, diese Leute zu einem<br />
Tee zu versammeln.<br />
19. Juni<br />
Eben erhielt ich ein Päckel von Frau Schmidt, schade, daß<br />
es nicht gestern kam, Dir die Tasche noch mit vier Apfelsinen<br />
und vier Zitronen zu füllen. Den Tabak hättest Du nicht gekriegt.<br />
Und die Nescafé trinkst Du, wenn Du mal hier bist.<br />
20. Juni<br />
Chesterfields <strong>Briefe</strong> an seinen Sohn las ich gestern zu Ende.<br />
Ich möchte wissen, was <strong>aus</strong> den Nachkommen dieses Sohnes<br />
wurde, der vielleicht die teuerste Erziehung genossen hat, die<br />
je an einen Knaben gewendet wurde. Herbart 7 hielt die Erziehung<br />
des „Emile“ bei Rousseau für zu teuer, da das Leben eines<br />
Hofmeisters an einen Knaben verschwendet werde, von<br />
dem man nicht wisse, ob sich dieser Aufwand lohnen werde.<br />
Chesterfield ließ den Sohn bedeutend mehr verbrauchen. Dieser<br />
war sozusagen „das Werk“ seines Lebens. Dieses 18. Jahrhundert<br />
ist ein recht erziehungsfreudiges Zeitalter gewesen,<br />
von den Versuchen Pestalozzis an den Kindern der Armen bis<br />
zu dem großen Aufwande, den Chesterfield trieb. Und Salomo<br />
7 Johann Friedrich Herbart (1776–1841), Philosoph und Pädagoge.<br />
fragt: Welches Resultat hat der Mensch von all seiner Mühe?<br />
„Alles ist eitel und Streben nach Wind.“ [Prediger]<br />
158 159<br />
28. Juni<br />
Gestern war ich bei den Eltern. Großmutti klagte über die<br />
Gewitterhitze am Sonnabend; gestern war es besser. Erdbee-<br />
ren: wir wissen noch nicht genau wann sie werden zu haben<br />
sein. Vielleicht ließe es sich einrichten, daß ich sie Dir mit Bus<br />
bis zum Hauptbahnhof brächte, dort abends ½ 7 h ankäme<br />
und 7 h wieder zurückführe. Das bedeutet, daß Du mit größe-<br />
rem Korbe an den Bus kämest, wir die Beeren dort umfüllten<br />
und ich den Korb gleich wieder mit zurück nähme. Die einzige<br />
Schwierigkeit ist die Benachrichtigung. Großmutti meinte, daß<br />
sich das am nächsten Sonntage entscheide.<br />
9. Juli<br />
Entschuldige, daß ich nicht noch mit Dir in das Café ging<br />
– den Namen vergaß ich, Altersschwäche – aber die Luftwolke<br />
darin stieß mich um, und ich mußte fürchten, dort zusammen-<br />
zusinken. Auf dem Weg zum Bahnhof wurde das langsam bes-<br />
ser. Im Bus erwischte ich schnell meinen Platz und kam gut in<br />
<strong>Waldheim</strong> an, um 9 h mit 10 Minuten Verspätung wegen der<br />
geschlängelten Umleitung, die der Wagen zur Zeit wegen des<br />
Straßenbaues fahren muß.<br />
23. Juli<br />
Alles ist eitel<br />
Ich las wieder einmal das Buch des Jenaer Medizinprofes-<br />
sors Veil: „Goethe als Patient“. Es ist derselbe Veil, der 1945<br />
den Dr. Knye bei der Rettung der Särge Goethes und Schillers<br />
beraten und diesen versteckt hat, als er wegen Ungehorsams<br />
standrechtlich erschossen werden sollte. Was für ungeheure<br />
Zeiten haben wir doch durchlebt! Und ein jüdischer, von den<br />
Nazis <strong>aus</strong>gebürgerter Schriftsteller, Emil Ludwig, geleitete die