Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1975 Vietnam im Fernsehsessel<br />
deutlich, daß der Befehl dazu eindeutig gegen die vorherigen<br />
Einwände und den Widerstand des Kommandeurs der Flug-<br />
zeuggeschwader erfolgte. Leider siegte die Gehorsamspflicht<br />
über die moralischen Hemmungen derer, die den Befehl des<br />
obersten Vorgesetzten <strong>aus</strong>zuführen hatten. Churchill wird da-<br />
mit eindeutig von der Anklage belastet, dieses Verbrechen an-<br />
geordnet zu haben. Das war ein Vergeltungsschlag für das, was<br />
die deutsche Heeresleitung in England verübt hatte. […]<br />
Über die unzuverlässige Art und Weise, wie „Geschichte“<br />
geschrieben wird, konnte ich einige Einsicht gewinnen. Es ist<br />
doch wohl ein Irrtum, zu glauben, man wisse von der Vergan-<br />
genheit mehr als von der Zukunft. Die Vorsokratiker hatten<br />
bereits klarere Vorstellungen als die, die heute geläufig sind.<br />
Ranke wollte in seinen Büchern darstellen, „wie es wirklich ge-<br />
wesen ist“. Sein Irrtum war die Annahme, daß sich das <strong>aus</strong> al-<br />
ten Urkunden und Erzählungen berichten lasse.<br />
26. März<br />
Ein arabischer König 3 wurde ermordet. Ich erinnere mich<br />
noch, welches Aufsehen 1894 die Ermordung des Präsidenten<br />
von Frankreich Sadi Carnot erregte; heute macht so ein Be-<br />
triebsunfall noch kaum einen Eindruck. Das mag wohl mit der<br />
Entwertung des Lebens zu erklären sein, die seit 1914 mehr<br />
und mehr zugenommen hat. Heutzutage wurden die Kriegsge-<br />
biete in Vietnam zu Arbeitsplätzen der Fernsehgesellschaften,<br />
die bemüht sind, durch „Originalaufnahmen“ des Unglücks an-<br />
ziehende Programme zusammenzustellen, ohne die Unkosten<br />
gestellter „Aufnahmeobjekte“ tragen zu müssen. Kommt gele-<br />
gentlich dabei ein Reporter um, wird er durch einen andern er-<br />
setzt. Der Film photographierter Kriegsereignisse wird mit Flug-<br />
zeugen zu den Fernsehsendern befördert, und der friedliche<br />
3 König Faisal von Saudi-Arabien (1905–1975).<br />
Spießer kann schon eine Woche später die moderne Schlacht,<br />
den Zug der Flüchtlinge, die zerstörten Häuser von seinem<br />
„Fernsehsessel“ <strong>aus</strong> betrachten. Der „Fortschritt“ läuft hörbar<br />
über den Globus.<br />
27. März<br />
Heute war ein Kurzbericht über Ernst Jünger zu hören, des-<br />
sen Bücher hier freilich nicht angeboten werden. Als neues von<br />
ihm wurde der Titel „Philemon und Baucis“ genannt. Na ja,<br />
wir werden es nicht zu lesen bekommen, da er hier keine Gel-<br />
tung hat. Die „Vorschrift“ kommt eben „vor“ der Schrift. Und<br />
wer sind die „Vorschreiber“? Und so etwas nennt sich „Demo-<br />
kratie“! Die Zustände sind nicht wie im alten Rom, sondern be-<br />
schränkter, aber da hilft kein Fluchen. Nur gut, daß man mit<br />
seinen Gedanken alle Grenzen überschreiten kann. (Ich unter-<br />
drücke einige allgemein verständliche Ausdrücke.)<br />
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26. April<br />
Als ich vor Jahrzehnten Abiturienten darauf hinwies, Psych-<br />
iatrie zu studieren, weil die Zukunft viele Irrenärzte brauchen<br />
werde, glaubte man das kaum; heute höre ich, daß der Bedarf<br />
schneller gewachsen ist, als zu vermuten war: in Westdeutsch-<br />
land allein fehlen ein paar t<strong>aus</strong>end Irrenärzte. […] Es wurde be-<br />
merkt, daß die Zahl der <strong>aus</strong>zubildenden Psychiater mindestens<br />
verdoppelt werden müsse, um nur den dringendsten Bedarf zu<br />
decken. Der Wahnsinn brach 1933 <strong>aus</strong>: Nietzsches im Wahnsinn<br />
geschriebenes Buch „Der Wille zur Macht“ wurde das Evange-<br />
lium der Nazipartei. Jede Machtgruppe schafft sich einen „Heili-<br />
gen“, auf dessen Botschaft sie schwört, aber gelesen wurde sie<br />
stets nur von wenigen; diese Bibeln stehen vorn in den Bücher-<br />
schränken: erst Hitlers „[Mein] Kampf“, der dann von Marx und<br />
Lenin abgelöst und in den Hintergrund geborgen wurde; freilich<br />
sehen diese Bücher noch nach Jahren sehr neu und geschont