Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1960 „F<strong>aus</strong>t“<br />
rühmte „Befreiung“? Jawohl, im Rahmen des Erlaubten dürft Ihr<br />
frei umhergehen, jeder von einer Zellenwand zur andern, oder<br />
auch an der Wand lang, möglichst an der Hand eines „Führen-<br />
den“, der „Anleitung“ oder „Hinweise“ gibt.<br />
<strong>Waldheim</strong>, den 4. Oktober<br />
Lies mal ruhig das Foerster 24 -Büchlein, „Warnung und Er-<br />
mutigung“; vielleicht gibt das einige Hinweise für Umgang mit<br />
schwierigen Leuten. Daß sehr viel Selbstbeherrschung nötig ist<br />
– das verstehe ich. Aber sie ist in diesem Falle nötig. Es wäre<br />
jedenfalls sehr verkehrt, in der gleichen Tonart aufzuspielen,<br />
weil das vielleicht erwartet wird. Es ist immer besser, das Uner-<br />
wartete zu tun, der Unfreundlichkeit eine gleichmäßige Freund-<br />
lichkeit entgegenzusetzen und nie mit gleicher Münze zu be-<br />
zahlen. Bosheit muß man erschweren, nicht erwidern.<br />
Daß die „natürliche“ Reaktion anders ist, das weiß ich auch<br />
– aber dabei ist noch weniger zu erreichen.<br />
3. November<br />
Merkwürdig, wie selten man jemand trifft, der Chrust-<br />
schows Sprache – mit dem Schuh auf den Tisch trommeln – für<br />
den ersten Naturlaut nimmt, der im „gebildeten Diplomaten-<br />
gespräch“ jener wohlgekleideten Lackaffen hörbar wird. Da re-<br />
den die Leute auf einmal von „Anstand“, von „Manieren“ – als<br />
ob es eben „anständig“ wäre, Millionen in den Tod zu jagen<br />
– es muß nur mit den wohlgezirkelten Diplomatensätzen ge-<br />
schehen. Ich habe Lust, nur noch mit <strong>aus</strong>gefransten Hosen, Lö-<br />
chern im Ellbogen etcetera zu gehen, nur um mich von dieser<br />
Welt auch in der äußeren Form des Auftretens zu unterschei-<br />
den. Diese „Äh-äh“-Welt.<br />
24 Karl Foerster (1874–1970), Blumenzüchter und Schriftsteller. <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> besuchte<br />
Karl Foerster des öfteren in seiner Gärtnerei in Potsdam-Bornim.<br />
9. November<br />
Was ich tue, fragst Du. Ich brüte über dem zu Weihnachten<br />
fälligen Bilderbuche, das ich nun so rasch als möglich fördern<br />
muß, weil ich es Dir vorher mal zeigen will. Ich hoffe, daß es<br />
ganz nett wird. Es ist die Amselgeschichte, von der ich einige<br />
sehr nette Photographien habe, die das Brutgeschäft in einzel-<br />
nen Etappen zeigen. Es ist also nicht so, daß „nichts“ dabei<br />
her<strong>aus</strong>gekommen wäre.<br />
Den „F<strong>aus</strong>t“ in einem Zuge zu interpretieren, ist natürlich<br />
nicht einfach – denn es stecken sechzig Jahre Arbeit eines Ge-<br />
nies in diesen bedruckten Seiten. Man kann da nur sehr an-<br />
deutungsweise etwas Zusammenfassendes sagen. Die Haupt-<br />
sache bleibt, die Schüler zur dauernden Beschäftigung mit die-<br />
sem Weltgedicht zu verlocken. Fatal wäre der Versuch, diesen<br />
Geniestreich Goethes zur Glorifizierung heutiger Wunschbilder<br />
zu verwenden. Aber vielleicht muß selbst das Einmaleins dazu<br />
herhalten. Sollte nicht in der Goethe-Gesellschaft der uns von<br />
Weimar her bekannte Mayer 25 über ein ähnliches Thema im No-<br />
vember sprechen? Ich hab – wegen eigener Mangelhaftigkeit –<br />
die Ankündigung damals nicht recht verstanden. Vielleicht fin-<br />
dest Du Zeit und Thema in dem Monatsprogramm der „kulturel-<br />
len“ Veranstaltungen angezeigt. Sieh doch bitte mal nach und<br />
schreib mir das mit.<br />
12. November<br />
Daß man auf den ersten Anhieb den „F<strong>aus</strong>t“ „verstehe“ –<br />
ist weder möglich noch nötig. Ich denke an den Leutnant, der<br />
im Schützengraben einen lesenden Soldaten fragte: „Was liest<br />
Du denn da?“ – „Goethes F<strong>aus</strong>t, Herr Leutnant.“ – „Verstehst Du<br />
denn das?“ – „Nein, Herr Leutnant, aber es ist wunderschön!“<br />
25 Hans Mayer (1907–2001), Germanist.<br />
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