Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1965 Praktische Psychologie<br />
Särge als amerikanischer „Kulturoffizier“ zurück nach Weimar in<br />
die Fürstengruft, nachdem sie von Goebbels zur Verbrennung<br />
bestimmt waren. In einem Schundroman berichtet, könnte die<br />
Geschichte unglaublich erscheinen. Also ist wohl die Weltge-<br />
schichte eigentlich ein Schundroman, von einem Kollektiv –<br />
nicht von einem Genie – verfaßt.<br />
28. Juli<br />
In dem beiliegenden Überblick über Konzerte von DDR-Mu-<br />
sikanten im Auslande in den kommenden Monaten (Dresdener<br />
„Union“ vom 27. Juli 1965) werdet Ihr einige Euch bekannte<br />
Namen finden. Lest diese paar Zeilen einmal durch. Man sieht,<br />
das wird heute alles durch zentrale Organisationen geordnet.<br />
Händel, Haydn, Mozart reisten noch allein. Das 19. Jahrhundert<br />
erfand den Impresario, den einzelnen Mann, der für den ein-<br />
zelnen Künstler das Geschäftliche erledigte – und sich dabei<br />
von ihm nicht schlecht ernährte. Heute macht das die „Deut-<br />
sche Künstleragentur“, wie das hier zu lesen ist. Das sind drei<br />
Stufen einer Entwicklung, die in der Musikgeschichte betrach-<br />
tet werden sollte, die Frage zu beantworten: Wie wird dem Zu-<br />
hörer die Kunst vermittelt.<br />
Dank für die Mitteilungen! Ja, ob ich noch „Ansager“ ma-<br />
chen kann? Wahrscheinlich machst Du das besser. Aber es mag<br />
sein, wie Du es vorgesehen. Nur beklage sich niemand über<br />
veraltetes Gerede eines veralteten Mannes. Die Dauer des Vor-<br />
trages der einzelnen Stücke zu wissen ist mir erwünscht. Denn<br />
diese ist gegeben. Da man die Aufmerksamkeit der Zuhörer<br />
nicht überfordern darf, muß sich die Ansage danach richten,<br />
denn die ist abkürzbar. Den Chopin’schen Trauermarsch kann<br />
man wohl kaum prestissimo spielen. Wiederholungen einzel-<br />
ner Musiksätze wegzulassen, ist nicht gerade ein Zeichen be-<br />
sonderen Kunstverständnisses. Mozart wußte sehr wohl, wes-<br />
halb er Wiederholungszeichen setzte. Wer das nicht beachtet,<br />
zerstört die Architektur des Kunstwerkes. Das ist also keines-<br />
falls erlaubt, mögen heute manche Musikanten darüber sagen,<br />
was sie wollen.<br />
160 161<br />
29. Juli<br />
Wenn man auch sagen könnte, es wird niemand unter den<br />
alten Leuten sein, der mir eine Ungenauigkeit nachweisen kann<br />
– das ist nicht wichtig; aber daß man die Sachen genau und<br />
richtig bringe, ist schon im bloßen Selbstgespräch nötig. […] Ich<br />
will nur wenig sagen, aber Einprägsames.<br />
6. August<br />
In den „Unterhaltungen des Kanzlers v. Müller mit Goethe“<br />
steht S. 55: „Nun kam er auf eine förmliche Theorie der Un-<br />
zufriedenheit. ,Was wir in uns nähren, das wächst, dies ist ein<br />
ewiges Naturgesetz. – Es gibt ein Organ des Mißwollens, der<br />
Unzufriedenheit, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht<br />
gibt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger<br />
wird es, bis es sich zuletzt <strong>aus</strong> einem Organ in ein krankhaftes<br />
Geschwüre umwandelt und verderblich um sich frißt, alle guten<br />
Säfte aufzehrend und erstickend. Dann setzt sich Reue, Vorwurf<br />
und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen an-<br />
dere und gegen uns selbst. Die Freude am fremden und eige-<br />
nen Gelingen und Vollbringen geht verloren, <strong>aus</strong> Verzweiflung<br />
suchen wir zuletzt den Grund alles Übels außer uns, statt es<br />
in unserer Verkehrtheit zu finden. Man nehme doch jeden Men-<br />
schen, jedes Ereignis in seinem eigentümlichen Sinne, gehe <strong>aus</strong><br />
sich her<strong>aus</strong>, um desto freier wieder bei sich einzukehren.‘“<br />
Diese „praktische Psychologie“ sieht anders <strong>aus</strong> als die<br />
der Lehrbücher. Er konnte wie Rousseau sagen: „Je sens mon<br />
coeur, et je connais les hommes.“ [Ich fühle mein Herz und ich<br />
kenne die Menschen.] 8<br />
8 Bekenntnisse. Erstes Buch.