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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1969 Staub<br />

Sinn sich dort allgemein zu beleben scheint, sogar bei Leuten,<br />

die sich dieses Phänomens kaum hell bewußt sind. Es scheint<br />

doch eine Art geistiger Wellenbewegung durch die Zeiten zu ge-<br />

hen. In einem vielbeachteten Werke 2 des Heidelberger Ordina-<br />

rius für Philosophie über den Historismus, das etwa vor einem<br />

halben Jahrhundert die Gemüter beschäftigte, schien man das<br />

Grabgeläute historischer Besinnung zu vernehmen angesichts<br />

der beschleunigten Entfaltung der Naturwissenschaften und<br />

des Austriebes völlig neuer ungeahnter Zweige der Mathema-<br />

tik. Das Interesse richtete seine Scheinwerfer der Aufmerksam-<br />

keit mehr und mehr auf Künftiges. Wir stehen hier und heute<br />

geradezu auf einem Aussichtsturme dieser Betrachtungsweise,<br />

und die Leuchtturmwärter merken noch nicht, daß sich bereits<br />

Kräfte regen, die die Lampen wieder einmal 180 Grad drehen<br />

wollen, um den zurückgelegten Weg zu betrachten. Es ist denk-<br />

bar, daß der Terminus „Renaissance“ nicht nur ein einmal ge-<br />

wesenes Phänomen bezeichnet, sondern daß gewisse Antriebe<br />

wiederholt im Entwicklungsgange wirksam werden können. Mit<br />

Marschmusik, mit Pauken und Fanfaren, im preußischen Stech-<br />

schritt, im passo Romano schritten die Zerstörer alter Kultur<br />

über die Bühne der Historie – vielleicht ziehen, noch unhörbar,<br />

auf leisen Sohlen ganz andere Kräfte heran. Das kann zur Zeit<br />

keiner beweisen und keiner widerlegen. Auch kann niemand<br />

behaupten, daß diese Auffassung mystischer Natur sei.<br />

17. Januar<br />

Heute erhob ich mich erst 11 h vormittags. Das bietet den<br />

Vorteil, das Frühstück zum Mittagessen zu ernennen und dabei<br />

Zeit, Geld und Arbeit zu sparen. Dann erweist man denen, die<br />

2 Vermutlich das Buch von Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen<br />

Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Frei-<br />

burg, Leipzig 1896.<br />

das tadeln, einen Dienst: das gesteigerte Selbstgefühl des Tad-<br />

lers steigert seine Lebensfreude.<br />

Ich geriet wieder mal an den „Uilenspiegel“ von de Cos-<br />

ter. Das liest sich heute nach den Erlebnissen der letzten fünf<br />

Jahrzehnte noch ganz anders. Und es zeigt sich dabei, daß die<br />

Kriegsmethoden sich gleich bleiben, wenn sich auch die Waf-<br />

fen und die Uniformen wandeln. Hinter diesem Buche steckt<br />

eine gewaltige Arbeit: <strong>aus</strong> alten Akten, Stadtchroniken und Le-<br />

genden die konkreten Unterlagen herbeizuschaffen – das will<br />

etwas heißen. […]<br />

Was alte Leute griesgrämig macht, ist wohl weniger der<br />

Mangel einer Beschäftigung als die Minderung ihres Einflusses<br />

auf andere: Macht an sich ist böse – aber jeder möchte befeh-<br />

len, anordnen, das Tun der andern lenken, „gelden“. Die Mög-<br />

lichkeiten solcher Selbstbestätigung werden von Jahr zu Jahr<br />

geringer, und das verdrießt.<br />

24. Januar<br />

Daß der 29. Januar 3 als „Festtag“ anzusehen sei, ist mir<br />

nicht geläufig. Ich werde froh sein, wenn ich ihn ohne Belästi-<br />

gung hinter mir haben werde. Kinder mögen an solchen Tagen<br />

ihren Spaß haben; jedoch das legt sich mit der Zeit. Zumal man<br />

zuvor noch allerhand Arbeit hat, seine Bude „aufzuräumen“,<br />

um den kritischen Blicken etwaiger Besucher keine Ziele zu ge-<br />

ben. Das ist zwar ganz unmöglich. Aber man tut doch etwas.<br />

Da nun das Kritisieren denen, die es tun, eine Bestätigung ihrer<br />

eigenen Vortrefflichkeit ist, sollte man eigentlich ihnen dieses<br />

Behagen nicht verkümmern. Warum wird z.B. Staub, der sich ir-<br />

gendwo zur Ruhe gesetzt hat, immer wieder mit Staubtüchern<br />

in die Unruhe sich bewegender Luftwirbel gebracht? Er ist die<br />

letzte sichtbare Form des Seienden, die Form, zu der alles zer-<br />

3 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Geburtstag.<br />

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