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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1966 Existentialismus<br />

hielt. Daß man nur kein Stück Natur ungeschändet lasse und<br />

überall Erinnerungen an die große Schmach von 1933 anbringe.<br />

29. April<br />

Der Satz von Hermann Hesse, der groß in Münchs Schau-<br />

fenster prangt, lautet: „Ohne Wort, ohne Schrift und Bücher<br />

gibt es keine Geschichte, gibt es nicht den Begriff der Mensch-<br />

heit.“ Das steht in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel „Magie<br />

des Buches“. Das Schaufenster könnte sich in jeder Großstadt<br />

sehen lassen; sie haben es recht geschmackvoll aufgebaut.<br />

Gestern – Fränzchen. Den fragte ich, mit welcher Summe<br />

man das Kreis-Gesundheits-Amt wohl bestechen müsse, um<br />

mal nach Brambach zu kommen. Worauf er zu sagen wußte:<br />

„Ich wohne zwar bei dieser Stelle – oder vielmehr: die wohnt<br />

bei mir. Aber Sie erinnern sich wohl, daß man in der Nazizeit<br />

,lebenswertes‘ und ,lebensunwertes‘ Leben unterschied. Dies<br />

hat man beibehalten – und wir gehören demnach heute zu der<br />

zweiten Kategorie.“ – Du siehst dar<strong>aus</strong>, daß der Mann klarer<br />

sieht als man ihm zutraut.<br />

30. April<br />

Vorhin war ich auf dem Friedhofe, um durch die Frau Schle-<br />

sier (die Mutter des Biologiestudenten Bernhard Schlesier) eine<br />

für ihn als Biologen sehr interessante Sache photographieren<br />

zu lassen. Ich hätte das selbst getan, kriege aber kein Mate-<br />

rial 9 x 12. Da hat die Wurzel einer Fichte eine etwa drei Zentner<br />

schwere Steinplatte 13 cm hoch gehoben mit Hilfe ihres jahre-<br />

lang wirksamen Wurzeldruckes. Solche Sachen bekommt man<br />

nicht zu häufig vor die Linse. […] Der von der Wurzel <strong>aus</strong>geübte<br />

Druck ist jedenfalls sehr bedeutend, denn drei Zentner (und<br />

150 g genau) hebt nicht gleich einer hoch und hält sie Tag und<br />

Nacht. Du denkst, ich hätte den Stein auf der Briefwaage gewo-<br />

gen. Keinesfalls – aber mit der Schmiege <strong>aus</strong>messen und den<br />

Kubikinhalt mit dem spezifischen Gewichte berechnen ergibt<br />

ohne Anstrengung den Betrag der Last. Da kann einer bei der<br />

Auferstehung noch vom eigenen Grabstein erschlagen werden.<br />

Heute herrscht endlich mal ein frühlinghaftes Wetter – wie<br />

lange? Gestern hörte ich von einem, daß ich gestorben sei – er<br />

hatte mich mit jemand verwechselt –, aber der war es auch nicht,<br />

sondern ein anderer. Eine etwas verwickelte Sache. Man kann sich<br />

nicht auf das verlassen, was man hört. Das stimmt nicht immer.<br />

184 185<br />

12. Mai<br />

Das sehr seltsame Buch 17 über den Existentialismus, das<br />

mir Karsten Schumann schickte, regt zu mancherlei Gedanken<br />

an. Der Verstand und die in der Logik zusammengefaßten Ge-<br />

setze seiner Funktionen ist durch<strong>aus</strong> nicht das Ursprüngliche<br />

im Menschen. Das kleine Kind bewegt sich, schreit (!), lächelt,<br />

freut sich – lange bevor es denkt und spricht. Es will – oder<br />

will nicht. Viele kommen über diese Entwicklungsstufe wenig<br />

oder nicht hin<strong>aus</strong>. Sie müssen handeln um jeden Preis, auch<br />

wenn es unvernünftig ist und zur Selbstzerstörung führt: Xer-<br />

xes, Napoleon, Hitler und alle in ihrer Nachfolge. Auch in die<br />

Bemühungen ernster Denker klingen die Grundakkorde <strong>aus</strong><br />

dem Bereiche des Irrationalen viel bestimmender hinein als<br />

sie und ihre Anhänger glauben. Eitelkeit und Ehrgeiz und zü-<br />

gelloses Selbstbewußtsein haben am Aufbau des Systems von<br />

Karl Marx einen beträchtlichen Anteil, wie an jeder politischen<br />

Ideologie. In eine ganz andre Dimension greift der Künstler,<br />

der seine Empfindungswelt – nicht Denkprodukte – in die voll-<br />

kommene Form zu bringen sucht. Goethes „Marienbader Ele-<br />

gie“ hebt einen Seelenzustand in die Glorie, der jedem „Ver-<br />

ständigen“ absurd erscheint, von den Tatsachen her gesehen.<br />

Raffael malt in den vielen Madonnen seine Geliebte [Fornarina]<br />

17 Fritz Heinemann, Existenzphilosophie, lebendig oder tot?, Stuttgart 1954.

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