Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1966 Die Häkelnadel
die Welt zerstörten und in den Konzentrationslagern Tausende
als Rauch aus den Essen der Verbrennungsanlagen aufstiegen.
In dem Buche ist auch der „Ermahnungsbrief“ 26 Klopstocks an
Goethe nach Weimar und Goethes Antwort 27 abgedruckt. Man
las sonst meist nur den Brief Goethes. Das Buch behält trotz
der völlig weltfremden Einleitung seinen Wert. Vielleicht hätte
es damals ohne dieses Vorwort gar nicht gedruckt werden kön-
nen. Es ist in den Dieterich-Ausgaben erschienen.
3. September
Sofort nach Empfang Deines Briefes ging ich zu Schunke, die
gewünschte Nadel zu bekommen – nichts. Dann zu Frau May. Er-
gebnis: Es gibt nicht mal Stricknadeln. Dann in das früher Bau-
mannsche, jetzt HO-Geschäft. Da gab es nur diese beiliegende
Nadel. Ob es die gewünschte ist, bezweifle ich noch. Es bleibt
dann nur übrig, nach Euren möglichst genauen Angaben (Haken-
größe, Länge, Stärke der Nadel) so ein Ding anzufertigen.
6. September
Daß die Häkelnadel brauchbar ist, freut mich. Ich hätte
sonst eine herstellen müssen aus Corneliuskirsche. Odysseus
schwang eine Lanze aus diesem Holze. Romulus stieß eine sol-
che Lanze auf dem Palatinischen Hügel in die Erde; er hatte da-
mit die Grenze der zu gründenden Stadt Rom bezeichnet. Noch
bis in die Zeiten des Caligula stand dort der aus jener Lanze er-
wachsene Cornelkirschenbaum. Das rötlich-braune Holz ist sehr
hart; cornus ist = Horn; es könnte sich – gut poliert – zu einer
solchen Nadel eignen. Vielleicht ist auch eine aus Plaste her-
stellbar, aber man wird leichter einen Ast Corneliuskirsche als
ein passendes Stück Plaste bekommen können.
26 Brief vom 8. Mai 1776.
27 Brief vom 21. Mai 1776.
16. September
Gestern begrüßte mich einer, der als Schüler des 7. u. 8.
Schuljahres so 1923 in einer Klasse bei mir war. Vorher hatte
ich die hervorragende Klasse entlassen, in der Schlesier Hans
– der Vater von Konrad und Bernhard – gewesen war. Bei der
Neuzuteilung von Klassen übernahm ich nach dieser erstklas-
sigen Gesellschaft eine sogenannte C-Klasse. Da waren damals
die Kinder beisammen, die im Durchschnitt die Censur drei hat-
ten und die selten einer nehmen mochte. Und gerade diese war
als große Rüpelklasse gefürchtet. Da nahm ich sie, schon um
die Eifersucht der Kollegen zu dämpfen, die meine Erfolge in
der vorhergehenden 1A mit Verdruß gesehen hatten. Der mich
gestern ansprechende, heute Tiefbauarbeiter, erinnerte sich mit
großer Freude jener Rabaukenzeit, führte die verschiedenen
Kameraden an, die dabei waren, brachte recht genaue Unter-
richtserlebnisse vor, physikalische Versuche, Gartenarbeit, Wan-
derungen und hat nun vor, mit einigen Überbliebenen dieser
Zeit einen „Wiedersehensabend“ mit mir anzustellen. So etwas
kann einem nach 43 Jahren begegnen.
20. September
Es ist doch furchtbar, diese systematische Rückkehr zu den
primitiven Zuständen der Urzeit mit der Devise: Jeder macht al-
les selber, was er braucht, oder er verzichtet überhaupt. Aber
wir stehen eben im 27. Jahre des zweiten Weltkrieges, das darf
man nicht vergessen – aber auch nicht erzählen.
21. September
Ich bin dabei, einen alten Duden Deines Vaters im Einbande
zu erneuern. Ihm ist das Buch recht wertvoll, als Geschenk ei-
nes längst vergangenen Patienten. Da muß man ihm schon die-
sen Gefallen tun. Das ist so ein Fall für den „Philosophieleh-
rer“ der „Ober“-Schule: hier ist das Materielle nämlich völlig
194 195