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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1968 Zukunftslinien der Literatur<br />

16. Februar<br />

Diese Nacht schlief ich so nach halb drei ein – bis halb<br />

fünf eine Elektronenzelle in meinem Gehirn „Ammianus Mar-<br />

cellinus“ meldete, an den ich Jahrzehnte nicht gedacht! Er war<br />

der um 400 nach Chr. gestorbene bedeutendste römische His-<br />

toriker nach Tacitus, der die Zeit von 96–378 n. Chr. beschrie-<br />

ben hat. Jetzt muß ich nun mal versuchen, <strong>aus</strong> einer Bibliothek<br />

seine opera quae supersunt (leider nicht omnia) zu bekommen.<br />

Vielleicht erfahre ich dar<strong>aus</strong>, was er so mitten in der Nacht von<br />

mir gewollt hat. Eine recht sonderbare Besuchszeit hat er frei-<br />

lich gewählt. Aber schließlich darf man sich über nichts mehr<br />

wundern. Vielleicht haben diese alten Herren eben andere Sit-<br />

ten und Gewohnheiten und „Anstandsregeln“, oder sie neh-<br />

men sich die Freiheit, solche nicht zu beachten. Wie er trotz<br />

des „Sicherheitsschlosses“ hereinkam, müßte mit dem Schlos-<br />

ser erörtert werden.<br />

27. Februar<br />

Eben der kalten Fahrzeuge wegen zog es Dr. Toepel vor, mit<br />

der Eisenbahn am Sonnabend zurückzufahren, nachdem er sein<br />

Auto am Donnerstag nach <strong>Waldheim</strong> zurückgeschickt hatte. Die<br />

gute alte Eisenbahn hat schon einige empfehlende Eigenschaf-<br />

ten. Alexandre de Villers 3 hatte über alle Reiserei seine beson-<br />

deren Ansichten und mag davon nichts wissen, nachdem er<br />

mal wieder von Wien nach Paris gefahren war – erster Klasse<br />

– bloß um jemand zu besuchen. Wie froh ist er, dann wieder<br />

in seinem Dorfe zu sein, Neulengbach, wo er eine kleine Wirt-<br />

schaft für sich ganz allein betreibt.<br />

3 Vgl. das von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> sehr geschätzte Buch <strong>Briefe</strong> eines Unbekannten, s. auch<br />

Brief vom 27. Oktober 1970.<br />

29. Februar<br />

In Leipzig wird – nach einer Kulturbundmitteilung am 8.3.<br />

Girnus über „Zukunftslinien der Literatur“ 4 sich ergehen. Jetzt<br />

werden wohl auch die etwa künftig zu schreibenden Liebesge-<br />

dichte „geplant“, Romane „in Auftrag gegeben“ wie eine Hose<br />

beim Schneider oder ein Paar Stiefel beim Schuster.<br />

Die Goethe-Gesellschaft Leipzig wird sich mit der „F<strong>aus</strong>t-<br />

Rezeption Maxim Gorkis“ 5 befassen, am 15.3.1968. Auch mit<br />

Brecht kannst Du Dich vergnügen, denn der darf nicht fehlen.<br />

Alles Sachen, die mich nicht interessieren können. Das sollten<br />

sich die Meßgäste anhören, um ein Bild zu bekommen – aber<br />

diese werden sich kaum dafür interessieren, da ihnen billig ein-<br />

zukaufen und teuer zu verkaufen doch am nächsten liegt. Viel-<br />

leicht ist das auch vernünftiger als die „Zukunftslinien der Li-<br />

teratur“ berechnen zu wollen, ein Unternehmen, das doch nur<br />

in einer durch Befehle und Verbote gelenkten Gesellschaft ge-<br />

lingen kann. In einem geschlossenen Gebäude zu bestimmen,<br />

welche Temperatur und welche Luftfeuchtigkeit darin das ganze<br />

Jahr zu herrschen habe, ist keine Kunst, nur die Gewitter und<br />

die Stürme außerhalb des Baues lassen sich weder lenken<br />

noch vor<strong>aus</strong>sehen.<br />

Daß ich mir heute ein <strong>aus</strong> den Fugen gehendes – weil mit<br />

Draht geheftetes – Inselbuch frisch gebunden hab, halte ich für<br />

viel vernünftiger als solche Bestimmung von „Zukunftslinien“.<br />

Die Welt dürfte durch die allseitige Reglementierung nach und<br />

nach immer einförmiger, immer langweiliger werden. Wozu soll<br />

man ein Buch lesen, dessen Tendenz vorher bekannt und be-<br />

stimmt ist? Diese patentierte Kindernahrung kauf ich nicht.<br />

4 Vgl. Wilhelm Girnus, Zukunftslinien. Überlegungen zur Theorie des sozialistischen<br />

Realismus, Berlin 1974.<br />

5 Gemeint ist ein Vortrag des Slawisten Ralf Schröder (1927–2001).<br />

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