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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1961 Freue Dich am Schönen<br />

fahrt“ ist ein Vorspiel zu dem „Glasperlenspiel“. „Klein und<br />

Wagner“ eine zweiseitige Selbstanalyse. Ich glaube, wir lasen<br />

das früher einmal.<br />

28. Mai<br />

Das Weiblein mit dem Lumpenwagen, das wir in der Goe-<br />

the-Gesellschaft trafen, beweist doch, daß hier so einfache<br />

Leute wie Lumpenkarrenschieber auf einem sehr hohen Bil-<br />

dungsniveau stehen! Oder willst Du das anders erklären? Hier<br />

siehst Du wieder mal schön die Vieldeutigkeit der Erscheinun-<br />

gen. Dasselbe Phänomen kann man als Aufstieg wie als Abstieg<br />

hinstellen, je nachdem auf welchen Schleichwegen des Verstan-<br />

des man hintrottet.<br />

Montag früh<br />

Es freut mich, daß Du den Rümelin 8 brauchen kannst als<br />

B<strong>aus</strong>tein in Dein Shakespeare-Fach. Nochmal studieren? Ja, das<br />

würde ich auch gern, so wie der alte Goethe in Jena, der sich<br />

in die Vorlesungen der ihm – als dem obersten Kurator – unter-<br />

stellten Professoren einfach hineinsetzen konnte. Aber hier und<br />

heute? Man müßte erst Fragebogen <strong>aus</strong>füllen, Öl auf die Glau-<br />

benslampe gießen, um damit einen täuschenden Schein hervor-<br />

zubringen – nein, dann helfen wir uns lieber selber fort und hal-<br />

ten uns an die Originale. An den unterschiedlichen Betrachtun-<br />

gen Vischers 9 und Rümelins und anderer zeigt sich doch wieder,<br />

daß eben die Verschiedenartigkeit der Standpunkte auch ver-<br />

schiedene Anblicke bietet – genau wie bei der Lumpensamm-<br />

lerin mit dem Goethe-Niveau. Ändre den Standpunkt – und<br />

Schwarz wird Weiß: Schneeflocken gegen das Licht gesehen fal-<br />

len dunkel – am Boden sehen sie weiß <strong>aus</strong>; wenn das schon im<br />

8 Gustav Rümelin, Shakespearestudien, Stuttgart 1866.<br />

9 Gemeint ist hier Friedrich Theodor Vischers „F<strong>aus</strong>t, der Tragödie dritter Theil“, Tübin-<br />

gen 1862, von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> des öfteren mit kritischen Bemerkungen bedacht.<br />

physikalischen Bereich gilt – wieviel mehr im literarischen, his-<br />

torischen, künstlerischen. Man lernt, das zu registrieren, ohne<br />

sich darüber aufzuregen. Manchem ists doch sogar fraglich, ob<br />

es den Shakespeare oder den Jesus überhaupt gegeben hat.<br />

Freue Dich am Schönen und laß die Meinungen der Professoren<br />

als Curiosa stehen. Was glaubst Du wohl, was alles in einer ka-<br />

tholischen Goethe-Biografie zu lesen ist? Oder in einer Reforma-<br />

tionsgeschichte eines Jesuiten? Jeder richtet das Lämpchen sei-<br />

nes Verstandes in dem Winkel auf die Objekte, der ihm von sei-<br />

ner „Weltanschauung“ vorgeschrieben wird. Eine Tänzerin auf<br />

einer Bühne nimmt sich sehr verschieden <strong>aus</strong>, je nach dem, ob<br />

die Lampen vorn an der Rampe, oben, unten, hinten, seitlich<br />

angebracht sind. Vielleicht verschwindet die Erscheinung über-<br />

haupt, wenn alle Lampen zugleich leuchten – oder verlöschen.<br />

58 59<br />

7. Juni<br />

Gestern wurde ich auf der Straße von der Frau *** angehakt:<br />

ich sollte zur Wahl der Kreisgewerkschaftsleitung! Sie machte<br />

das recht schnell und geschickt, […] also dirigierte sie mich in<br />

den Laden ihres Vaters, holte <strong>aus</strong> einem Auto einen Pappkas-<br />

ten mit einem Spalt, das war die „Wahlurne“, drückte mir ein<br />

paar mit unbekannten Namen bedruckte Zettel in die Hand, die<br />

ich in den Pappkasten legte – sooo ein Humbug, noch dazu ei-<br />

ner, den alle als solchen betrachten. Da wird Papier, Druckkos-<br />

ten, Zeit verramscht für nichts! Nein, nicht für nichts – um zu<br />

probieren, wie lange wir uns diese Tyrannei noch gefallen las-<br />

sen. Es sind bloße Geduldsproben, die wir noch selber bezah-<br />

len. Man möchte <strong>aus</strong> diesem Pferch <strong>aus</strong>brechen. Aber überall<br />

schnuppern die Wachhunde.<br />

7. Juni<br />

Eben besuchte mich der Vater der Doris Wittig, die mal<br />

Schulsekretär bei mir war. Ein Sohn von ihm, den er 20 Jahre

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