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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1960 Die Distel am Wege<br />

mag im letzten Jahrhundert vieles davon zerstört und geraubt<br />

und verkauft worden sein – es muß selbst da noch Unglaubli-<br />

ches zu finden sein. Dabei sieht man erst mal, wie armselig es<br />

bei uns in bezug auf Kunst bestellt ist; was es dort in Städten,<br />

nicht größer als Hartha oder Mittweida, an Kostbarkeiten gibt!<br />

Hier konzentriert sich das Wenige in den Großstädten – und es<br />

zu bewundern – z.B. Dich – bedarf es erst einer Reise. Ich will<br />

noch mehr wiedersehen als die Dioskuren.<br />

Die erste meiner Amaryllen blüht dunkelrot; jetzt sieht man<br />

bereits am Ende des Stengels vier Knospen von verschiedener<br />

Größe. Aber ich glaube, auch die weiße hat bereits angesetzt,<br />

den andern werde ich es auch noch beibringen.<br />

23. März<br />

Was ist Citoplast? fragst Du – und hast doch schon oft durch-<br />

geschaut: es ist das Mikroskop, mit dem ganze Gruppen kleiner<br />

Gesteine oder Kristalle in mäßiger Vergrößerung (bis 100 x) be-<br />

trachtet werden können und die Bilder ihre Tiefenschärfe be-<br />

halten. Außerdem kann man 6–8 cm Abstand vom Objekt ein-<br />

halten. Das andre Mikroskop – in dem wir die Dünnschliffe im<br />

polarisierten Lichte sahen – ist ein normales. Und als solches<br />

gibt es natürlich nur das haarscharf, was in einer Ebene liegt.<br />

Hier kann man bis 1500 fach oder noch höher vergrößern, aber<br />

die Objekte müssen lichtdurchlässig sein oder gemacht werden<br />

und möglichst dünn und genau in der Ebene.<br />

3. April<br />

Heute ist hier völlig klarer Himmel – und wahrscheinlich<br />

auch über Leipzig. Versucht doch mal ein kleines Stück in die<br />

Gegend zu gehen, um zu sehen, was es da noch an Schönem<br />

gibt; auch hier muß man sich mühen, das Positive zu finden.<br />

Und Du kannst das! Beweis: Die Distel am Wege, die den meis-<br />

ten ein lästiges häßliches Unkraut ist – und Du hast sie gese-<br />

hen. Ich bin doch auch so ein Stacheltier.<br />

Ein schmaler Sonnenstreifen fiel diagonal über vier Fächer<br />

meines Goethe-Regales. Er wanderte über Goethes Tagebücher,<br />

ließ die <strong>Briefe</strong> des Kanzlers Müller grellrot aufleuchten, strei-<br />

chelte Mercks <strong>Briefe</strong>, um sich schließlich in dem Bande „Wil-<br />

helm Meister“ zu verlieren, den ich mit 13 Jahren zum ersten<br />

Male las. Es ist nicht zu glauben, mit welcher Eile er sechs<br />

Bände Kant durchstudierte. Jetzt langt er auch noch quer über<br />

den Bücherschrank und eilt über das Regal mit den Naturwis-<br />

senschaften. Er könnte als Sonnenuhr dienen. Ich bedaure nur,<br />

daß ich nicht so geschwind durch die Bücher komme.<br />

24 25<br />

Montag<br />

Schönen Dank für Deine Karte. Aber Du sollst Dich nicht wie<br />

hingesetzt fühlen. Ich bin immer bei Dir, halte mir Deine Bilder<br />

vor Augen, die ich längst „<strong>aus</strong>wendig gelernt“ habe, wie das<br />

Burckhardt angesichts der Meisterwerke fordert.<br />

Du hast doch andern vieles vor<strong>aus</strong>. Du siehst die sich ent-<br />

faltende Distel am Wege und kannst Dich ihrer Schönheit und<br />

ihrer Genügsamkeit freuen, wie sie dem ärmlichen Standorte<br />

Leben abgewinnt. Das ist immer unsre Aufgabe, an jedem Orte.<br />

Andre würden sie als lästiges Unkraut weghacken und haben<br />

nichts von ihr. Sie ist Symbol, ganz ähnlich wie die genügsa-<br />

men Stachelkakteen, die noch am Rande der Wüste leben. Und<br />

so gibt es für Dich noch vieles Positive.<br />

7. April<br />

Die Bewohner kleiner Städte und Dörfer wie H[ermann]<br />

H[esse] haben eben keinen Blick für die Zusammenballung der<br />

Kultur im gewaltigen Steinpalaste der Großstadt (<strong>aus</strong> Platten).<br />

Außerdem sind sie hilflos gegenüber dem Tempo des machtvoll<br />

r<strong>aus</strong>chenden Lebens zusammengefaßter Energien der Hundert-

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