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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1968 Beruf Einsiedler<br />

29. Juli<br />

Auf dem Friedhofe überfiel mich „die Begegnerin“ mit ei-<br />

nem Vortrage, daß sie „Philosophin“ sei und „philosophische<br />

Abhandlungen“ schreibe. Ich konnte mir nicht anders helfen,<br />

als diese Tätigkeit für höchst überflüssig zu erklären, mit der<br />

Bemerkung, man solle allen „Philosophen“ einen Spaten und<br />

eine Mistgabel mit Gebrauchsanweisung geben. Ich hoffe, sie<br />

hält mich nunmehr für einen un<strong>aus</strong>stehlichen Ban<strong>aus</strong>en, der<br />

ich ja auch bin. – Auf einer Grabstelle blüht dort ein 60 cm ho-<br />

hes Schneeglöckchen orientalischer Herkunft, das an dem Blü-<br />

tenschaft eine pyramidale Blütenrispe entwickelt hat mit zwan-<br />

zig Blüten, die jede einem großen Märzbecher gleichen. Das ist<br />

doch wesentlich interessanter als der Gehirndunst in den Köp-<br />

fen sogenannter „Philosophen“!<br />

30. Juli<br />

Heute vor 70 Jahren starb Bismarck, ich erinnere mich noch<br />

an die im [Lehrer-]Seminar veranstaltete Feier. Daß er in die<br />

Grundlagen des Deutschen Reiches bereits die Kräfte zu des-<br />

sen Zerstörung einbaute, ahnten damals nur sehr wenige ein-<br />

zelne Leute. Der größte Aufschwung technischer Art begann:<br />

die ersten elektrischen Straßenbahnen fuhren, das erste Auto-<br />

mobil zeigte sich in den Straßen von Dresden, wo Pferdewa-<br />

gen noch die Regel waren. Freiballonflüge gab es im Sommer<br />

häufig, und die ersten Flugzeuge erhoben sich. In den Straßen<br />

kam der Eiswagen, an dem die Dienstmädchen Eisblöcke für<br />

den Eisschrank der feinen Leute in Eimern holten. Noch rollten<br />

keine Filme über die Leinwand. Kein Radiokasten verbreitete<br />

Meinungen und musikähnliche Geräusche. Die Kronprinzessin<br />

Luise durchbrach die Schranken der gesellschaftlichen Ordnung<br />

und „brannte mit einem Sprachlehrer durch“. Was haben wir in<br />

diesen Jahrzehnten durchgekostet.<br />

5. August<br />

Von Dr. T[oepel] hörte ich, daß die Begegnerin wegen Schi-<br />

zophrenie Invalidin ist – zur „Korrespondentin“ ist freilich ein<br />

derart beschädigtes Gehirn noch <strong>aus</strong>reichend – wie es bereits<br />

bei Hitler und Stalin <strong>aus</strong>reichte, Staaten zu Grunde zu richten.<br />

Solche Leute können also recht gefährlich werden.<br />

Ein berühmter Psychiater 12 in Freiburg ist dafür bekannt,<br />

daß er jeden Tag einige Scenen im Shakespeare liest: dies sei<br />

der größte Psychologe aller Zeiten. Da dürfte er nicht Unrecht<br />

226 227<br />

haben.<br />

17. August<br />

Hans hat einige Befürchtungen, daß ihm sein Betrieb zu sei-<br />

nem bevorstehenden 60. Geburtstag eine große Gratulationscour<br />

anrichten werde. Das kann ich mir vorstellen. Ich soll zwar auch<br />

hinkommen, aber das werde ich noch überlegen müssen. Ich bin<br />

für derlei ungeeignet und diene nicht zur Verzierung. Mein Beruf<br />

als „Einsiedler“ ist mir nachgerade ganz angemessen.<br />

19. August<br />

Das kommt gar nicht in Frage, daß Dein Besuch hier am<br />

kommenden Sonnabend, den 24. August verschoben werde,<br />

nein, nein. Ich denke, daß ich morgen von Gera Nachricht habe.<br />

Falls ich am 22. nach Gera fahre, komm ich am selben Abend<br />

zurück. Ich bin früher mal einen Tag nach Weimar gefahren,<br />

früh hier weg und um Mitternacht war ich wieder hier und hatte<br />

noch das Weimarbild von Franz Huth 13 zu tragen, das in meiner<br />

Stube hängt. Ich erwarte Dich am Sonnabend den 24. 11 22<br />

hier am Markte. Ob wir uns auf dem Wege zu mir die 12 h ange-<br />

12 Vgl. Alfred Erich Hoche, Shakespeare und die Psychiatrie, in: Archiv für Psychia-<br />

trie und Nervenkrankheiten. Bd. 33, H. 2, Berlin 1900, S. 666–673.<br />

13 Mit dem Maler Franz Huth (1876–1970), seit 1922 in Weimar ansässig, fühlte sich<br />

<strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> freundschaftlich verbunden.

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