Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
1961 Der Fachmensch<br />
nicht gesehen hat, ist Bergmann in Frankreich, hat ihn eingela-<br />
den, ihn zu besuchen. Ja, da müssen erst mal 7 Formulare für<br />
das französische Consulat <strong>aus</strong>gefüllt werden, die brachte er<br />
nun, und da kann ich dem alten Knaben den Gefallen tun. Der<br />
Papierkrieg um so eine einfache Sache, daß ein alter Vater sei-<br />
nen Sohn besuchen möchte, der ist wirklich schauerlich. Müs-<br />
sen die Leute eine Angst haben. Nur die Tyrannen reisen frei.<br />
16. Juni<br />
Nun rege Dich nicht mehr auf über mangelndes Verständnis<br />
für Stupsens „gesellschaftliche Betätigung“! Wie es Leute gibt,<br />
die farbenblind oder unmusikalisch sind, so muß man eben<br />
damit rechnen, daß bei diesem und jenem auch das, was man<br />
„Gemüt“ nennt, mangelhaft entwickelt sein kann. Daß diese<br />
Leute ärmer sind als andre, ist nicht zu bezweifeln. Deshalb<br />
sind sie wohl mehr zu beklagen. Es fehlt ein Organ, so wie wir<br />
alle keins haben, etwa magnetische oder elektrische Erschei-<br />
nungen ohne deren Übersetzung in andre Hilfsmittel zu begrei-<br />
fen. Erst durch sichtbare oder hörbare Experimente läßt sich<br />
feststellen, ob ein Stück Eisen magnetisch ist oder ob in einer<br />
Spule ein Strom läuft.<br />
19. Juni<br />
Für Stups war es ganz gut, mal in dem großen Raum vor<br />
den Menschenmassen zu stehen, ohne Lampenfieber zu krie-<br />
gen. Das ist eine ganz schöne Vorübung gewesen. Nun ist aber<br />
sehr zu wünschen, daß mal eine etwas ruhigere Lebensweise<br />
eintrete. Es kommt schon alles zu seiner Zeit, und es ist nicht<br />
nötig, auch nicht wünschenswert, das Tempo zu sehr zu stei-<br />
gern. „Das still-vergnügte Streichquartett“ 10 hieß das nette Bü-<br />
chel <strong>aus</strong> dem Heimeran-Verlag. Auf dem „still-vergnügt“ liegt<br />
10 Bruno Aulich / Ernst Heimeran, Das still-vergnügte Streichquartett, München 1936.<br />
so ein Schimmer von biedermeyerlicher Behaglichkeit, um die<br />
uns das Tempo des technischen Zeitalters gebracht hat – die<br />
aber lebensnotwendig ist, wenn die Irrenärzte nicht überlas-<br />
tet werden sollen. Daran sollte immer gedacht werden, ehe ir-<br />
gend etwas Stürmisches in Angriff genommen wird. „Der Sinn<br />
des Lebens ist das Leben selbst“ 11 , sagt Goethe, der davon et-<br />
was verstand. Das bedeutet also, daß zuviel Sturm das Leben<br />
selber bedroht und seinem eigentlichen Zwecke entfremdet, es<br />
soll genossen werden! Dir wird man da noch einige Lektionen<br />
erteilen müssen.<br />
60 61<br />
29. Juni<br />
Seidel schrieb einen sehr interessanten Brief, den ich mal<br />
mitbringe. „Studium“ ist dort genau so eine gehetzte, geplante,<br />
mit Prüfungen überladene Specialarbeit geworden wie hier. Ich<br />
gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß das „Zeitalter der<br />
Bildung“, wie es einst vielen vorschwebte, vorüber ist. Es wird<br />
der Fachmensch gezüchtet, der auf einem engen Sondergebiet<br />
arbeitet, und den alles andre nicht kümmern darf. So wird je-<br />
der eine Art „Mosaiksteinchen“ – ob freilich das Zusammensein<br />
vieler solcher Steinchen ein Gesamtbild ergibt oder nur einen<br />
bunten Haufen – das ist noch nicht so sicher. Von meinem wohl<br />
veralteten Standpunkte gesehen ist der Zustand wenig erfreu-<br />
lich. Aber der Gang scheint unaufhaltsam. Die kleinen Bremsen,<br />
die man mit „Kulturbemühung“ – schreibender Arbeiter, junger<br />
Talente, Volkskünstler etcetera – anzusetzen versucht, geraten<br />
bald in gleiches Tempo. Es ist das Zeitalter der Rastlosigkeit.<br />
Goethe hat zwar auch jede Minute genützt, aber doch dabei um<br />
sich und für viele ein Klima der Besinnung geschaffen, für die<br />
heute kaum noch Zeit bleibt. Auch in dem gepriesenen „Golde-<br />
nen Westen“ nicht. Denn auch die dort über das Land ziehen-<br />
11 Brief an Johann Heinrich Meyer vom 8. Februar 1796.