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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1970 Zukunftsschule<br />

30. November<br />

Im Alter von 97 Jahren starb am Freitag Karl Foerster. Leider<br />

trau ich mir die Fahrt zu der Trauerfeier am Donnerstag 13 Uhr<br />

in der Kirche Potsdam-Bornim nicht zu. Mit ihm ging einer der<br />

bedeutendsten Männer der letzten hundert Jahre davon.<br />

1. Dezember<br />

Fritz von Unruh 12 starb mit 85 Jahren, ein Schriftsteller, der<br />

sich in der Systemzeit (1919–1933) stark um den Frieden be-<br />

mühte und deshalb verfolgt wurde. Er lebte in der Nazizeit in<br />

Frankreich und den Vereinigten Staaten. Nach und nach ver-<br />

schwindet die alte Garde.<br />

5. Dezember<br />

Gestern hörte ich einen Vortrag von einem Felix von Kube<br />

zur bevorstehenden Gesamtschule im Westen. Da wurde der<br />

bisherigen Schule ihr autoritäres System vorgeworfen: sie sei<br />

ein Rest autoritativer Gesellschaft, der „Vorgesetzte“ herrsche,<br />

Lehrziele seien vorgeschrieben, ebenso die Wertung und Be-<br />

urteilung der Leistung; die „Jahrgangsklasse sei ein militäri-<br />

sches Relikt“, die „Schulordnung“ ein legales Zwangssystem,<br />

das Schulh<strong>aus</strong> ein steriles B<strong>aus</strong>ystem für Drill. Die Macht be-<br />

rufe sich auf metaphysische Instanzen. Die Schule solle sein<br />

„die Funktion einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft“.<br />

Hier wird Falschmünzerei mit dem mehrfachen Bedeutungsge-<br />

halt von Begriffen getrieben. „Autorität“ kann freilich als Ver-<br />

hältnis befehlender zu gehorchender Gesellschaft sein. Daß es<br />

auch die auf Ehrfurcht gewachsene freiwillig dargebotene „Au-<br />

torität“ gibt, bleibt dem Reformer unbekannt, wir schauen hin-<br />

12 Fritz von Unruh (1885–1970), nach seinen Erlebnissen im 1. Weltkrieg Pazifist, 1933<br />

Flucht, Ausbürgerung; Exil in Italien, Frankreich, USA, 1962 endgültige Rückkehr<br />

nach Deutschland.<br />

auf zu Goethe, zu Kolbe, zu Ehlers 13 in Weimar, zu Karl Foer-<br />

ster. So ist es in einer Schule, in der ein Meister in der Kunst<br />

der Menschenbehandlung lebt. Ferner merkt der Kritiker nicht,<br />

daß nicht nur die Jesuitenschule, oder die <strong>aus</strong>gesprochene pro-<br />

testantische oder die betont nationale oder internationale auf<br />

metaphysischen Vor<strong>aus</strong>setzungen ruht, sondern jede, auch die<br />

socialistische, die „freigeistige“, ja seine eigenen Vorschläge<br />

ruhen auf ihren Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Autori-<br />

täten. Fünf Stunden später brachte der Kritiker Fredericia 14<br />

eine „Zeitungsschau“ mit einer Darstellung solcher „Zukunfts-<br />

schule“. Scene: Klassenraum, erstes Schuljahr. Der Lehrer tritt<br />

ein, grüßt, steht am Pulte. Der „Klassensprecher“ sagt: „Setzen<br />

Sie sich!“ Lehrer setzt sich und sagt: „Ich dachte, wir lernen<br />

heute das R.“ Klassensprecher: „Darüber müssen wir abstim-<br />

men. Wer ist für das R? Zwei, vier, sechs … das ist die Minder-<br />

heit. Ich bitte um einen anderen Vorschlag!“ – „Das S.“ – „Gut,<br />

wir stimmen ab. 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14 – das ist die Mehrheit. Wir<br />

lernen das S!“ Lehrer: „Ich schreib das S an die Tafel, und Sie<br />

schreiben es in Ihr Heft!“ Der Sprecher: „Was ist dazu Ihre Mei-<br />

nung?“ Ein Schüler: „Der Lehrer soll das S in die Hefte schrei-<br />

ben!“ Sprecher: „Wir stimmen darüber ab! 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14<br />

– das ist die Mehrheit. Sie schreiben das S in die Hefte.“ Der<br />

Lehrer: „Ich schreib das S in die Hefte!“ Danach der Rundfunk-<br />

sprecher: „Jetzt sind wir noch nicht so weit, aber bald werden<br />

wir auch so weit sein.“ Ende.<br />

13 Fritz Ehlers (1911–1981), Geiger und Violinpädagoge an der Weimarer Musikhoch-<br />

schule, Begründer des Weimarer Kammerorchesters.<br />

14 Pseudonym von Walter Petwaidic (*1904).<br />

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