Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1966 Amaryllis, Alpenveilchen<br />
ein Genuß ist bei der Sache, Selbstgenuß. Da hilft nichts als<br />
eben Mitmachen. Der bloße Zuhörer ist freilich enttäuscht: die<br />
Harmonie „an sich“ ist unerfreulich – nur die Aktivität erhöht<br />
die Daseinsfreude. Ich hätte oft große Lust, mich daran zu be-<br />
teiligen! Das ist keine Erkrankung, sondern eine normale Äuße-<br />
rung schöpferischen Grolles. Aber wer versteht das?<br />
21. Juli<br />
Hat man das mit dem Lager 22 vorher gesagt? Da wäre doch<br />
ein Einsatz mit der Geige vorzuziehen gewesen. Denn das wird<br />
sie [die Tochter] jetzt kaum vermeiden können. Der Wind in<br />
dieser Richtung beginnt schärfer zu wehen – und so wenig wie<br />
möglich aufzufallen muß jetzt hingenommen werden. Man weiß<br />
nie vorher, wozu solche Sachen angestellt werden; aber eins ist<br />
sicher, daß es sich um Fallen handelt, die Leute sich darin sel-<br />
ber fangen zu lassen, die mit irgendeinem Vorwande sich fern-<br />
halten wollen. Ich kann – so sehr ich das bedaure – nur raten,<br />
in den sauren Apfel zu beißen und den Betrieb zu ertragen.<br />
Wahrscheinlich lauert man nur darauf, daß Einzelne sich durch<br />
ihr Fernbleiben bemerkbar machen, die man dann mit einer<br />
scheinbaren Begründung abweisen kann. Auch für ein etwai-<br />
ges Stipendium fällt das ins Gewicht, da das erste Wort in die-<br />
ser Kommission der politische Rektor hat. Das ist bedauerlich,<br />
aber wir können daran gar nichts ändern; Widerstand ist in die-<br />
sem Falle nicht nur zwecklos, sondern dumm und unvorsichtig,<br />
kurzsichtig. Und wenn schon dabei Schießübungen vorkämen,<br />
wäre auch das ohne Bedenken mitzumachen. Es ist nie vor<strong>aus</strong>-<br />
zusehen, wozu etwas Gelerntes einmal sehr gut sein kann. Ich<br />
denke hier durch<strong>aus</strong> realistisch.<br />
22 Vermutlich ist ein Lager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) gemeint.<br />
Diese Lager dienten der vormilitärischen Ausbildung der Schüler in der DDR.<br />
190 191<br />
27. Juli<br />
Heute holte ich mir erstmal einen Eimer Erde und setzte ei-<br />
nige Amarylliszwiebeln in neuen Boden. Leider kann ich kein<br />
Glash<strong>aus</strong> bauen, die Brutzwiebeln so sachgemäß als möglich<br />
weiter zu kultivieren. Und in meiner Stube bin ich bereits „Volk<br />
ohne Raum“ 23 . Zwei kleine Alpenveilchen, die in einem Winkel<br />
ohne einen Tropfen Wasser eingezogen gelebt hatten, zeigen<br />
neue kleine Ansätze zu Blättern und Knospen. Sie wurden auch<br />
zur Belohnung in neue Erde gebracht – die alte war staubtro-<br />
cken – und nach Monaten erstmals gegossen. Vielleicht geden-<br />
ken sie doch, im Spätherbst oder Winter zu blühen. Eine Ama-<br />
ryllis ließ es sich einfallen, jetzt zu blühen. Mit Brutzwiebeln<br />
könnte ich handeln. Aber die meisten Leute möchten eine, die<br />
sofort blüht; Geduld, sie in mehreren Jahren heranzuziehen, hat<br />
niemand. Deshalb sind auch die fertigen Pflanzen dann im Ver-<br />
kauf ziemlich teuer. Die Gärtnerei muß sich eine mehrjährige Ar-<br />
beit – Platzanspruch, Frostfreiheit, Umsetzen, Gießen – bezah-<br />
len lassen, das ist doch einzusehen.<br />
Das <strong>aus</strong> dem Seiffener Senker von 5 cm Länge erwachsene<br />
Glockenblumenstöckchen hat eine Unmenge kleiner Knospen<br />
angesetzt. Die Pflanze stammt <strong>aus</strong> den Ligurischen Alpen am<br />
Mittelmeer, etwas östlich der berühmten Riviera. In diesem<br />
Klima blüht sie wahrscheinlich recht üppig in Polstern im Stein-<br />
gerölle. Hier hat sie Kakteen <strong>aus</strong> Mexiko, Amaryllis <strong>aus</strong> Süda-<br />
merika als Nachbarn. Diese internationale Versammlung ersetzt<br />
weite Reisen in ferne Länder, die wir sowieso nicht unterneh-<br />
men können. „Bleibe im Lande und nähre dich kümmerlich.“ 24<br />
23 Ironische Anspielung auf den im Nationalsozialismus zum Schlagwort gewordenen<br />
Titel des 1926 erschienenen Romans von Hans Grimm.<br />
24 Ironisch nach Psalm 37,3: „... bleibe im Lande und nähre dich redlich.“