Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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fenen Spaltung der Gesellschaft durch die Ausbürgerung Wolf<br />
Biermanns 1976.<br />
Wie verhielt man sich in einem Staat, der dem Einzelnen<br />
den Zugang zur Welt, zur Welt der Gedanken, zur Welt der Bü-<br />
cher beschränkte, wenn nicht verwehrte? Wohl sehen wir den<br />
Schreiber der <strong>Briefe</strong> darauf bedacht, den Mängeln und Zwän-<br />
gen eines zunehmend reglementierten Alltags wirksam zu be-<br />
gegnen. Worauf es ihm jedoch vor allem ankam, war, sich nicht<br />
mit dem Überleben zu begnügen, gar in innerem Aufruhr sich<br />
zu verzehren, sondern angesichts aller Nötigung entschlossen<br />
und kräftig für die Stärkung der Person zu sorgen. Unter dem<br />
26. August 196o findet sich seine oberste Maxime: „Wenn die<br />
Gemeinschaft gedeihen soll, muß erst der Einzelne für sich al-<br />
lein sich zu einem Wertfaktor entwickeln.“<br />
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Schwer zu sagen, ob der Umstand, dem wir die Fülle und<br />
Lebendigkeit der <strong>Briefe</strong> verdanken, ein glücklicher Zufall ge-<br />
nannt werden darf.<br />
Der Sechsundsiebzigjährige sieht sich in einem Moment<br />
von der ihm am nächsten stehenden geistigen Partnerin ge-<br />
trennt, als er das Schwinden seiner Kräfte erleben muß. Die Fa-<br />
milie Schade zieht 196o von <strong>Waldheim</strong> nach Leipzig. Was seit<br />
über zehn Jahren im vertrauten Gespräch mit der 33 Jahre Jün-<br />
geren bewegt worden war, geriet nun in die <strong>Briefe</strong>, die in den<br />
ersten Jahren täglich, vielfach zweimal am Tage zwischen Wald-<br />
heim und Leipzig gewechselt wurden. Ohne die Trennung hätte<br />
es die <strong>Briefe</strong> nicht gegeben, die wir nun als <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Be-<br />
kenntnisse und Vermächtnis lesen.<br />
Die Sorge um die junge Lehrerin und ihre beiden Töchter<br />
hatte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Leben seit 1947, da er ihr in einem kri-<br />
tischen Augenblick als Leiter der <strong>Waldheim</strong>er Volksschule ge-<br />
holfen hatte, ihre Gesundheit wiederherzustellen, immer stär-<br />
ker <strong>aus</strong>gefüllt. Noch sechs Jahre nach dem Umzug nach Leipzig<br />
spürt man den Schmerz der Trennung, wenn er am 22. Sep-<br />
tember 1966 nach einer verzweifelten Klage über die geistige<br />
Verwüstung Deutschlands bedauernd hinzusetzt: „Entschul-<br />
dige dieses – ich hab hier niemand, mit dem ich darüber re-<br />
den kann.“<br />
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Drastisch wie er war, hüllte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> den Schmerz der<br />
Trennung in das Gewand rücksichtsloser Selbstbezichtigung.<br />
Was liege schon an ihm, dem „hinfälligen Greis“, dem „wack-<br />
ligen Gestell“ und „alten Knacker“, dem „leergeräumten Stein-<br />
bruch“, der „klapprigen Ruine“! Sei er nicht „überständig alt<br />
geworden“, eine „unerwünschte Versteinerung <strong>aus</strong> vergange-<br />
ner Epoche“, von „Altersblödsinn“ heimgesucht, gleichsam der<br />
„geborene Nichtsnutz“? Auch an dem Lehrer <strong>Pfeifer</strong> läßt er kein<br />
gutes Haar. Er wird nicht müde, sich einen „verkalkten Kunst-<br />
erzieher“ und „armen Teufel <strong>aus</strong> der Provinz“ zu nennen, einen<br />
„minderen Magister“ und „pedantischen Schulmeister“, der<br />
diese ewigen „Lehrbriefe“ <strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong> schreibt.<br />
Bis in das übermütig-wehmütige Spiel mit den Bedeutun-<br />
gen des Wortes „aufgeben“, das zum einen sein tägliches Post-<br />
geschäft, zum anderen sein bedrohtes seelisches Gleichgewicht<br />
meinte, wurde die Klage darüber laut, von der Freundin ge-<br />
trennt zu sein. Am 18. Oktober 1960 fügt er sich in das Unabän-<br />
derliche, wenn er zu einer aufzugebenden Sendung nach Leip-<br />
zig schreibt: „Am liebsten schlüpfte ich selber in den großen<br />
Briefumschlag – aber wie soll ich mich dann aufgeben. (Eigent-<br />
lich hab ich mich schon aufgegeben.)“<br />
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Sicher darf man davon <strong>aus</strong>gehen, daß das so raffinierte<br />
wie riskante Lamento nicht nur Abwehrzauber gegen die wirk-