Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1962<br />
1./2. Oktober<br />
Im Begriffe, mal in den Garten an der Mühle zu gehen, traf<br />
ich H[errn] Pönisch, vor seinem H<strong>aus</strong>e stehend. Er hat jetzt<br />
eine Woche Ferien, und man hat „die Alten“ vom Kartoffel-<br />
ernten befreit. Er kann also tun, was ihm beliebt. Trotzdem<br />
herrscht die fruchtlose Nörgelstimmung vor. Daß vieles wider-<br />
wärtig ist, weiß ich auch. Aber welchen Gewinn es bringen soll,<br />
diesen alten Moder ewig um und um zu schaufeln – das sehe<br />
ich nicht. Warum soll man sich die kurze Zeit damit verderben,<br />
zumal es genug unantastbar Schönes gibt? Da bleib ich lieber<br />
einsam in meiner Bude. Grüßen soll ich Euch von ihm. […]<br />
Daß Stups „Don Giovanni“ zu sehen oder vielmehr zu hören<br />
bekommt, ist recht erfreulich. Lest bitte das Kapitel darüber in<br />
dem Mozartbuche von Schurig 14 (weißer + blauer Pergamentrü-<br />
cken). Das ist sehr nötig und erhebend.<br />
Wie sich die Arbeit an der Musik-Hochschule entwickeln<br />
wird, das interessiert mich sehr. Na, wir werden sehen und hö-<br />
ren und wollen nichts durch Nörgeln uns verbittern. Was hilft<br />
alle Quengelei? Diese müde Art des Krittelns ist mir durch die<br />
Begegnung mit Pönisch gestern in ihrer ganzen Unfruchtbarkeit<br />
recht deutlich geworden. Hier gilt noch heute der alte Satz der<br />
Scholastiker: „e meris negativis nihil sequitur = <strong>aus</strong> bloßen<br />
Verneinungen geht nicht das geringste hervor“. Das bleibt rich-<br />
tig, ja es geht die Lähmung der Lebensfreude und der Lebens-<br />
kraft davon <strong>aus</strong> – und das soll man unterlassen. Du siehst, daß<br />
mich die sprichwörtliche griesgrämliche Altersdenkweise noch<br />
nicht gepackt hat und auch hoffentlich nicht erfassen wird. Wie<br />
froh bin ich, Dich in einem erfreulichen, gesundheitlichen Kräf-<br />
tezustand hier gesehen zu haben! Das ist etwas Positives, dem<br />
gegenüber so manches Mißbehagen in bloßen Rauch aufgeht.<br />
14 Wolfgang Amadeus Mozart. Sein Leben und sein Werk, Leipzig 1913.<br />
4. Oktober<br />
Hier mal wieder was zu Eurer „Büldung“: ein nicht übler<br />
Aufsatz über Elly Ney 15 . Und auf der Rückseite ist die „Schön-<br />
heit in einer morbiden Welt“ und die Klavierkonzertreportage<br />
auch lesbar. Nur – als ob es je eine andre als eine morbide<br />
Welt gegeben hätte – niemals; bloß gut, daß es Schönheit ge-<br />
geben hat und gibt!<br />
Im Verordnungsblatt steht eine Verfügung: „Grundsätze für<br />
die Planung, Organisation und Leitung der pädagogischen For-<br />
schung zur weiteren Entwicklung des sozialistischen Volksbil-<br />
dungswesens der DDR“ – das heißt also: das Denken über pae-<br />
dagogische Fragen wird bereits nach Vorschriften <strong>aus</strong>geführt,<br />
so wie ein Pudding nach Rezept zu kochen ist. Ein Genie wäre<br />
demnach auf diesem Gebiete nicht mehr möglich – innerhalb<br />
dieses kleinen Ländchens, das doch nur eine Großstadt ist, die<br />
<strong>aus</strong> Schilda oder Abdera 16 sich entwickelt hat. Aber immerhin.<br />
So ein geschraubtes, überhebliches Gerede. Da hätte sich also<br />
Pestalozzi – ehe er eine paed. Schrift verfaßte – erst bei der Ko-<br />
ordinierungsstelle pflichtgemäß melden, sein Forschungsvorha-<br />
ben angeben, in die Forschungskartei aufnehmen lassen müs-<br />
sen – müssen – müssen und dann – wäre abzuwarten, ob er<br />
eine Erlaubnis zu forschen bekäme. Dieses System ist ein geis-<br />
tiger Versteinerungsvorgang; unterschrieben vom Nachfolger 17<br />
des Staatssekretärs für Hochschulwesen, den wir in Weimar<br />
hörten – und dessen Name mir entfallen ist. Die „Kartei“ – das<br />
ist so das höchste, zu dem man aufsteigt.<br />
Gehen wir in die „Trostbude“. Was ist das? Jacob Burck-<br />
hardt erzählt, der Redner Antiphon (etwa 450 vor Chr.!) soll in<br />
15 Vermutlich zum 80. Geburtstag der Pianistin.<br />
16 Vgl. Christoph Martin Wieland, Geschichte der Abderiten.<br />
17 Ernst-Joachim Gießmann (*1919), 1962–1967 Staatssekretär für Hoch- und Fach-<br />
schulwesen der DDR.<br />
Antiphons „Trostbude“<br />
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