Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1972 Weltpostverein
Hupen der Autos erlebte er nicht mehr, es hat inzwischen auch
aufgehört. Dafür knattern Motorräder und Flugzeuge, und der
Mensch gewöhnt sich an alles. Oder – er richtet seine Aufmerk-
samkeit auf bestimmte Ziele und stellt damit seine Aufnahme-
bereitschaft für andre Empfindungen ab; das gibt es auch. Jetzt
ist erstmal die „Luftverschmutzung“ Mode. Diese fiel mir zu-
erst 1928 in London sehr auf. Als ich nach Leipzig zurückkam,
machte die rührige Messestadt geradezu den Eindruck eines
Dorfes. Nun ja: erst tut man alles Mögliche zur „Hebung des
Verkehrs“, dann bemühen sich andre die auch gern etwas „or-
ganisieren“ wollen, um die Beseitigung der neuen Übelstände.
Als die Propeller des Zeppelin die Luft mit Geräusch erfüllten,
wurde dies damals mit einem gewissen Genuß aufgenommen.
Ich höre noch Dr. Naumann 8 am Bahnhof, als er dem auch nicht
geräuschlosen Rangieren von Güterwagen zusah, ausrufen:
„Sehen Sie, da oben rollen meine ersten Wagen wieder nach
Dänemark!“ Musik war ihm das Rangiergeräusch, das ihm das
Abrollen seines Steinmehles in die Koppenhagener Terracotta-
werke ankündigte! („Verschreiben“: Doppel-p unter dem Vor-
wirken des Doppel-r in terra!)
Etwa 1929 wurde ein „Anti-Lärm-Verein“ 9 gegründet – na-
türlich mit gehörigem Lärm der Gründer, die um ihre Parole
Leute sammeln wollten, die Vereinsbeiträge zahlten, Versamm-
lungen besuchten, Vorträge (= Lärm!) anhörten und „Entschlie-
ßungen“ faßten. Dies Schauspiel wiederholt sich, wenn auch
die Ziele wechseln, mit denen der Rummel in Gang gesetzt
wird. („Gegen den Lärm der Großstadt!“ – „Gegen die provinzi-
elle Verschlafenheit kleinstädtischer Existenz!“ – „Belebung des
Reiseverkehrs!“ – „Großkundgebung!“ und sooo weiter!)
8 Martin Naumann, Stein- und Terrazzowerke, Waldheim, Bahnhofstraße 39.
9 S. Brief vom 6. Februar 1968.
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16. März
Bereits 6 Uhr war ich in meiner Klause nach der Fahrt auf der
Autobahn über Leisnig. Ich ließ wieder einen „Faust“vortrag 10
ohne Manuskript laufen, hoffentlich ohne dabei den grauen
Staub der Langenweile aufgewirbelt zu haben. […] Bei diesem
Spaziergang durch Goethes „Faust“ – das Stück spielt durch
3000 Jahre – schwebt man dauernd in der Versuchung, Ausbli-
cke nach sehr vielen Seiten zu eröffnen, weil der Reichtum an
Beziehungen unendlich bleibt. Es ist doch so, als ob bei je-
dem Satze immer mehr „Obertöne“ hörbar werden, die dem,
der dies sozusagen das erste Mal genauer vernimmt, nicht be-
wußt werden. Aber einiges aus der Fülle muß hörbar und sicht-
bar gemacht werden.
30. März
Das Buch über die Geschichte des Verlages Reclam 11 heb
bitte für mich auf. Es ist ganz interessant, diese Historie zu le-
sen, die ein Jahrhundert überblickt, das man selber zu einem
großen Teil vergehen sah. Jetzt ist der Verlag in zwei Anstalten
zerfallen, der eine im Osten, in Leipzig, der andere im Westen,
ich glaube in Stuttgart. Es ist also ähnlich wie beim Insel-Ver-
lag, bei Gustav Fischer in Jena und wohl noch einigen anderen.
Diederichs scheint keine Niederlassung mehr in Jena zu haben;
er besteht nur noch in Westdeutschland. Auch das „danken wir
dem Führer“!
6. April
Eben wurde an den vor 75 Jahren gestorbenen Generalpost-
meister von Stephan, der 1831 geboren ist, erinnert. Er begrün-
10 Die Vorträge zu Goethes Faust (oder auch zu Wilhelm Meister, zu Shakespeare, zu
E. T. A. Hoffmann) waren Lesungen mit Kommentaren, die Arthur Pfeifer zu ver-
schiedenen Zeiten und vor wechselnden Hörerkreisen veranstaltete.
11 125 Jahre Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, Leipzig 1953.