Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1967<br />
und nach ein paar Weihnachtsbüchern umzusehen. Ich wun-<br />
dere mich jetzt manchmal, daß ich solche Fahrten jahrelang<br />
täglich gemacht habe und jetzt dazu nur wenig Lust verspüre.<br />
Gestern fiel mir ein Büchlein 11 in die Hand mit den alten Fa-<br />
beln von Hey und den Bildern von Speckter. Gleich die erste<br />
von dem Raben im Winter brachte mich in mein erstes Schul-<br />
jahr, wo ich – noch nicht sieben Jahre alt – bestimmt wurde,<br />
diese Verse bei einer Weihnachtsfeier in der festlichen Schul-<br />
turnhalle der 11. Bezirksschule in der Pestalozzistraße in Dres-<br />
den dem versammelten Publiko vorzudeklamieren. Das ist also<br />
anno 1890 kurz vor Weihnachten gewesen. Wie doch die Zeit<br />
vergeht.<br />
13. Dezember<br />
Seidel schickte ein Päckel und einen gescheiten Brief, <strong>aus</strong><br />
dem hervorgeht, daß es in der andern Welt in der Jugend er-<br />
hebliche Verwirrungen gibt: eine von einem Fußballspiel heim-<br />
fahrende Gruppe zerstörte z.B. in England einen ganzen Ei-<br />
senbahnzug. Oder ein Abiturient in Schwerte warnt einen Leh-<br />
rer, einem Schüler eine 5 zu geben, da dann er – der Lehrer<br />
– „nicht mehr lange leben würde“. Der Lehrer benachrichtigte<br />
den Vater des Jungen, der dann antwortet, daß er seinem<br />
Sohne, dem Oberprimaner, die erste Ohrfeige in seinem Leben<br />
gegeben habe. Wor<strong>aus</strong> ich schließe, daß der Vater nicht bes-<br />
ser ist als sein Sohn, nicht einmal klüger. Nun hat es extreme<br />
Fälle auch in anderen Zeiten gegeben: etwa 1913 erschoß ein<br />
durchgefallener Abiturient den Lehrer, den er für schuld hielt,<br />
im Klassenzimmer und dann sich selbst. Und das war in einer<br />
Zeit, in der die Entwertung des menschlichen Lebens, die durch<br />
die Kriege verbreitet wurde, noch nicht in den Köpfen spukte.<br />
Der Fall geschah in Posen.<br />
11 Wilhelm Hey, Funfzig Fabeln für Kinder, Hamburg 1836.<br />
212 213<br />
1968<br />
7305 <strong>Waldheim</strong> i. Sa., den 22. Januar<br />
Dem Dr. Toepel graut es etwas vor seiner Pensionierung,<br />
d.h. davor, die Berufsarbeit aufzugeben, und er beklagt es<br />
jetzt, bisher sich viel zu wenig um seinen Garten bekümmert<br />
zu haben. Als ob sich das nicht nachholen ließe! Er wird wohl<br />
schon des Geldes wegen noch eine Weile weiter mitmachen,<br />
ganz abgesehen davon, daß er sehr oft zu irgendwelchen me-<br />
dizinischen Wochenend- und Fortbildungskursen fährt. Derglei-<br />
chen wird in reichlicher Fülle veranstaltet. Man muß sich wun-<br />
dern, daß es überhaupt noch kranke Leute gibt. Nachdem man<br />
Herzen operativ <strong>aus</strong>gewechselt hat, kann man das mal mit Ge-<br />
hirnen probieren – ich verkaufe meins. Das könnte herrliche<br />
Überraschungen ergeben, wenn sich dann einer an Erlebnisse<br />
erinnert, die er nie gehabt hat, seine früheren Bekannten und<br />
Verwandten nicht mehr kennt, Sachen weiß, die er nie stu-<br />
dierte, sich rückläufig eines neuen Lebensverlaufes erinnert.<br />
Darüber ließe sich ein komischer Film drehen. Shakespeare hat<br />
freilich im „Sommernachtstraum“ mit Zettels Verwandlung in<br />
einen Esel das Experiment bereits erfolgreich durchgeführt. Der<br />
Künstler nimmt auch hier mit seiner Phantasie vor<strong>aus</strong>, was eine<br />
später entwickelte Technik <strong>aus</strong>führt.<br />
24. Januar<br />
Aus einer Nürnberger Zeitung erhielt ich einen kurzen, gu-<br />
ten Aufsatz zum 90. Geburtstage von Georg Kolbe, dessen man<br />
dort gedachte. […]