Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1975 Konserven des Geistes<br />
<strong>aus</strong>. Das geschah doch auch mit der Bibel im letzten Jahrhun-<br />
dert. Ich sah einmal im Museum in Chemnitz das „Werk“ von<br />
Hitler, das eine Kunstschreiberin auf Pergament vollständig ab-<br />
geschrieben hatte. Wohin mag das gekommen sein? Das war<br />
schon ein sehr hoher Materialwert. Verschwendung war das.<br />
28. Mai<br />
Daß da in Weimar die Blumen auf Christianes Grab gestoh-<br />
len werden, das ist allgemeiner Gebrauch hier auf dem Fried-<br />
hofe. „Es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu“ 4 ; manche<br />
sammeln ihre „Geburtstagssträuße“ einfach auf dem Friedhofe,<br />
zumal die Blumenläden oft nichts anzubieten haben. Man-<br />
ches auf den Gräbern stellten Leute hin, die von <strong>aus</strong>wärts ka-<br />
men und dies mitbrachten. Kein Chronist der Zeitgeschichte<br />
hält das in seinen Aufzeichnungen fest, weil es nichts Außeror-<br />
dentliches ist, wie das in früheren Zeiten der Fall war. Die ei-<br />
nen kommen mit Blumen zu dem Friedhofe, die andern tragen<br />
sie wieder hin<strong>aus</strong>.<br />
30. Mai<br />
Der Cactus Grusoni, der bereits über 20 Jahre bei mir am<br />
Fenster steht, ist doch in den Jahren ganz schön herangewach-<br />
sen, freilich bis er die Größe eines Hockers haben wird, dürften<br />
noch 70 Jahre vergehen. Er ist der praktische Philosoph in der<br />
Pflanzenwelt: er verringert seine Oberfläche, damit wird er we-<br />
niger verletzbar und besetzt sich mit scharfen Lanzen, die An-<br />
greifer abzuwehren. Die Verkleinerung der Oberfläche macht ihn<br />
sicher vor den Gefahren des Wassermangels, da sich die Was-<br />
serabgabe verringert. Das alles stärkt seine Lebens<strong>aus</strong>sichten.<br />
4 Aus Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke.<br />
366 367<br />
4. Juni<br />
Heute erhielt ich die Liste „Neuerwerbungen“ <strong>aus</strong> der Lan-<br />
desbibliothek, das Heft vom April. Das macht einen ärmlichen<br />
Eindruck. Es umfaßt zwar 68 Seiten; es findet sich kaum etwas,<br />
das mich locken könnte, es zu bestellen. Zunächst ist der „Zu-<br />
wachs“ recht unterernährt: es wimmelt von kleinen Schwärt-<br />
chen, einer Unmenge von kleinen „Katalogen“ von Kunst<strong>aus</strong>-<br />
stellungen, von denen jeder die Zahl der vorhandenen Bücher<br />
um einen Titel vermehrt. Auf diese Weise ist es leicht, von über<br />
„eine Million vorhandener Bände“ zu sprechen. Überwiegend<br />
liest man slawische Titel. Daß es hier soviele Benutzer geben<br />
sollte, die fließend diese Sachen lesen, ist recht unwahrschein-<br />
lich. Aber Kataloge und Bücherregale füllen sich damit. Es mag<br />
auch daran liegen, daß es nur noch wenige Autoren hier geben<br />
wird, die Wesentliches verfassen. Natürlich ist auch nicht <strong>aus</strong>-<br />
zuschließen, daß mein Begriffsvermögen und mein Interesse an<br />
diesen Büchern – den Konserven des Geistes – allmählich ge-<br />
schrumpft sind. Was einen fesseln kann, erscheint nicht, und<br />
was erscheint, das geht mich kaum etwas an. Freilich die Zahl<br />
der möglichen Käufer ist durch die Teilung Deutschlands stark<br />
gesunken, man überlegt sich, was man verlegen und drucken<br />
kann, ohne daß der Verlag sein Vermögen dabei verliert.<br />
16. Juni<br />
Schönen Dank für den eben erhaltenen Brief sowie für die<br />
beigelegten Umschläge. Aber das war nicht nötig, Dich zu be-<br />
rauben. Ich weiß mir zu helfen und reiche noch lange mit Hilfe<br />
meines Kleistertopfes. Warum soll ich nicht <strong>aus</strong> zwei gebrauch-<br />
ten Umschlägen einen brauchbaren herstellen? Das ist weni-<br />
ger langweilig, als sich in einem Laden mit den Redensarten<br />
abfertigen zu lassen, daß es demnächst dies und jenes ge-<br />
ben soll. Ich hab es gründlich satt, Ladenredensarten anzuhö-<br />
ren. Im Gegensatz zu der Zeitmeinung, daß „Kontakte“ zu stif-