Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963<br />
zeugt, daß sie alles für sich behalten. Schon zu wissen, daß<br />
allerhand Censoren zu entscheiden haben, ob etwas gedruckt<br />
werde, was etwa zu streichen oder anders zu beleuchten sei –<br />
das nimmt doch jedem zu schreibenden Buche gleich beim Ent-<br />
stehen die unbefangene Frische. Also unterbleibt es. Und was<br />
kommt, ist eine Art „H<strong>aus</strong>zeitung“ eines Gefängnisses, wie es<br />
sie mal in der Anstalt 16 gab. Aber dieser Zustand begann 1933,<br />
er währt also bereits eine Generation von 30 Jahren.<br />
10. Oktober<br />
Auf der von mir nicht besuchten Versammlung der „Aktivis-<br />
ten der ersten Stunde“ 17 vorige Woche in Döbeln sind <strong>aus</strong> dem<br />
ganzen Kreise 17 Mann da gewesen. Ich hätte also kein großes<br />
Publikum gehabt, hätte ich da eine Ansprache halten wollen, ob-<br />
wohl es erheiternd ist, durch unerwartete Sätze die Zuhörer da-<br />
hin zu bringen, daß sie staunende Schafsgesichter aufsetzen.<br />
13. Oktober<br />
Die „Gewerkschaft“ meldete sich bereits wieder mit einer<br />
Einladung zur Besichtigung einer neuen Schule in Ostrau, am<br />
30. X. soll das sein, mit dem Bus ab Döbeln 13 h und zurück<br />
am Hbf. Döbeln 17 h; bis 16. X. soll die Meldung erfolgen. Ich<br />
weiß doch gar nicht, ob ich da bin, an dem Tage. Wie man nur<br />
plötzlich auf die Altlehrer sich so eifrig stürzt. Wenn ich nur<br />
wüßte, was dahinter steckt. Kein Mensch ist seiner Ruhe sicher;<br />
vom Säugling bis zum Altersrentner wird alles auf die Beine ge-<br />
bracht; jeder soll beunruhigt werden, denn keiner weiß, wie<br />
man ihn gelegentlich zu beschädigen denkt.<br />
16 Gemeint ist das Zuchth<strong>aus</strong> <strong>Waldheim</strong>.<br />
17 Als Leiter der Volksschule <strong>Waldheim</strong> (1946–1949) hatte <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> wesentlichen<br />
Anteil am demokratischen Neuaufbau des Schulwesens in Sachsen.<br />
14. Oktober<br />
Eben war die erste Meise am Fenster und sagte den Winter<br />
an, dessen Ende ich eher herbeiwünschte.<br />
Beim Wiederlesen von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ u.<br />
„Wanderjahren“ – ich weiß nicht, zum wievielten Male – ent-<br />
decke ich immer mehr neue Schönheiten und begreife nicht,<br />
wie es Leute geben kann, die dieses mit Weisheit angefüllte<br />
Werk langweilig finden können. Gewiß, es stehen Sentenzen<br />
in großer Zahl auf diesen Seiten; man könnte sie her<strong>aus</strong>heben<br />
und ein großes Spruchbuch dar<strong>aus</strong> bilden. Aber dabei ist doch<br />
Handlung in dem Ganzen, die den Leser immer in Spannung<br />
hält. Viele Gestalten sind in ihrem Wesen klar erkennbar, selbst<br />
Nebenfiguren werden deutlich. Und die Symbolisierung des-<br />
sen, was man „Schicksal“ nennt in den lenkenden Figuren des<br />
Turmes ist doch ein großer Gedanke. Hier gilt bestimmt Lich-<br />
tenbergs Satz: Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen<br />
und es klingt hohl – dann ist es nicht das Buch. 18 Viel kommt<br />
auch darauf an, in welchem Alter einer dieses Buch liest oder<br />
wieder liest; mir ist es mit jeder neuen Lesung bedeutsamer<br />
geworden. Man muß nicht notwendigerweise mit den Jahren<br />
dümmer werden. Eine t<strong>aus</strong>endjährige Eiche bringt mehr hervor<br />
als eine zehnjährige: an Holz, an Laub, an Früchten. Jeder Jah-<br />
resring, wie man ihn auf dem Querschnitte sieht, ist doch nur<br />
die Projektion eines räumlichen Gebildes in eine zweidimensio-<br />
nale Fläche, ist das Bild eines den ganzen Stamm umhüllenden<br />
Schlauches, ein lebendiges Gebilde von viel größerer Fläche als<br />
der Mantel des jungen Baumes.<br />
„Wilhelm Meister“ wiedergelesen<br />
Nun lächle über die Anmaßung eines alten Mannes.<br />
18 Frei nach Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D 396.<br />
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