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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1964<br />

21. März<br />

Hier stand in der Zeitung 9 ein Bericht über die Auffindung<br />

eines Burschen, der in Dresden eine 84jährige Frau mit einem<br />

Meißel ermordet und dann beraubt hatte. Ermittelt wurde er<br />

nach vergeblichen Versuchen durch ein Brillenglas, das man in<br />

den Kleidern der Ermordeten fand, 80 Optiker mußten ihre Kar-<br />

teien prüfen, es stellte sich her<strong>aus</strong>, wem das Glas gehörte: es<br />

war <strong>aus</strong> einer Brille der Mutter des Mörders, der diese Brille<br />

wegen „Verkleidung“ aufgesetzt hatte. Bei dem Kampfe mit der<br />

alten Frau war das Glas her<strong>aus</strong>gefallen. Der Täter wurde zu le-<br />

benslänglichem Zuchth<strong>aus</strong>e verurteilt. Die Ermittlung ist ein kri-<br />

minalistisches Meisterwerk, an dem man sieht, daß dieser Be-<br />

ruf recht interessant sein kann.<br />

28. März<br />

Auf einem Kongreß bildender Künstler ergab sich folgen-<br />

des: Zu Prof. F[ritz] Cremers Äußerung: „Wir brauchen keine<br />

volkstümliche Kunst“ vertrat Minister Bentzien 10 nachdrücklich<br />

die Meinung, daß Volksverbundenheit und Volkstümlichkeit zu<br />

den unabdingbaren Prinzipien des sozialistischen Künstlers ge-<br />

hören. Der Künstler sei nicht nur sich selbst gegenüber verant-<br />

wortlich, denn natürlich habe jeder Künstler Rechenschaft vor<br />

seinem Gewissen abzulegen, aber auch vor dem Volk. „Wem<br />

wollen wir denn die Kunst widmen, wenn nicht dem Volk, wel-<br />

che andere Möglichkeit zu wirken gibt es denn, wenn nicht im<br />

Volk?“<br />

Nun frage ich nur: Was heißt „Volk“? Das ist eine vollkom-<br />

men mystische Größe: ein Götze, wie etwa „Nation“. Der echte<br />

Künstler stellt sein Erlebnis mit den ihm geläufigen Mitteln dar –<br />

ohne nach einer Wirkung zu schielen. Ob das „verstanden“ oder<br />

9 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> hatte die Dresdner Bezirkszeitung der CDU Die Union abonniert.<br />

10 Hans Bentzien (*1927) war 1961–1966 Minister für Kultur der DDR.<br />

„ergriffen“ werde – das ist keinesfalls die Sorge des Künstlers;<br />

das ist eine Angelegenheit dieses mystischen Volkes, das zuwei-<br />

len zu Leb- und Wirkungszeiten des Künstlers noch gar nicht ge-<br />

boren ist. Was hätten die alten Germanen mit Sophokles’ „An-<br />

tigone“ anfangen können? Wie wenig wurde Bach bei Lebzei-<br />

ten ergriffen? Welchen Unsinn hat noch Fr. Th. Vischer über den<br />

zweiten Teil des „F<strong>aus</strong>t“ vorgebracht? Welche Widerstände wa-<br />

ren zu überwinden, Shakespeare zu erfassen! Wie viele herrli-<br />

che gotische Bildwerke hat das „Volk“ in der französischen Re-<br />

volution zerschlagen, weil die bis Luther wirksam gewesene re-<br />

ligiöse Bindung nicht mehr und künstlerisches Verstehen noch<br />

nicht entwickelt waren. Widerlege mich – wenn Du kannst. Und<br />

lies mal in der Leipziger Käsezeitung 11 nach, was da über den V.<br />

Kongreß Bildender Künstler Deutschlands gefabelt wird.<br />

28. März<br />

Der selbständige Geist – und das ist der Künstler – soll<br />

sich knechten lassen vom Volke, von der Masse, die unter den<br />

Händen ihrer Führer jede Form annimmt, die diese ihm auf-<br />

prägen, das heißt: das „Volk“ ist ein Vorwand in den Händen<br />

der Macht, die das „Böse“ an sich ist, ist das Mittel – das Volk<br />

nämlich – mit dem die Macht die von ihr gesetzten Ziele zu er-<br />

reichen strebt. Der absolute Herrscher früherer Zeiten konnte<br />

sich diesen Umweg ersparen.<br />

130 131<br />

31. März<br />

In den „Noten zum West-östlichen Divan“ schreibt Goe-<br />

the (W[eimarer] A[usgabe] I, 7, S. 93): „Überhaupt pflegt man<br />

bei Beurteilung der verschiedenen Regierungsformen nicht ge-<br />

nug zu beachten, daß in allen, wie sie auch heißen, Freiheit<br />

und Knechtschaft zugleich polarisch existiere. Steht die Ge-<br />

11 Gemeint ist die Leipziger Volkszeitung.<br />

Was heißt Volk?

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