Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1962<br />
17. März<br />
17. März – das ist der Tag, an dem ich 1933 <strong>aus</strong> dem Dienst<br />
geschickt und den Bestien zum Fraße vorgeworfen wurde.<br />
Der Elternabend muß schön gewesen sein – endlich mal<br />
sagt jemand etwas. Ganz natürlich mußte es dahin kommen:<br />
unten der kommandierte Zustrom von „höheren“ Schülern, die<br />
alle Ingenieure, Ärzte und was weiß ich werden wollten; oben<br />
floß dann ein großer Teil nach dem Studium westwärts ab, un-<br />
dankbar, wie sie waren. Jetzt ist diese Abflußröhre zugedreht –<br />
und man weiß nicht mehr, wohin mit den Leuten. Man tut sich<br />
was, daß es hier keine Arbeitslosen gibt, nein, die gibt es nicht;<br />
denn sie sitzen vier Jahre lang auf Schulbänken und in Kaser-<br />
nen. Und wie viele fahren mit Aktentaschen – keine Angst, da-<br />
rin sind die Fettbemmen – in der Gegend herum, machen „In-<br />
venturen“, begucken leere Regale, auf die sie dann große Pho-<br />
tographien stellen, vom Ballett – wie in dem großen Laden auf<br />
der Grimmaischen Straße, mit einem Nachthemd für 180 M, und<br />
bebilderten Schaufenstern. Freilich, Ballett spart Textilien. Stellt<br />
Nackttänze hin, is more attractive und täuscht über das Nicht-<br />
vorhandene.<br />
Nun könnte man wohl den Strom in das veraltete „Hand-<br />
werk“ lenken, die letzten Erfahrungen absterbender Meister zu<br />
beleben und weiter zu geben – aber wenn das die Meister be-<br />
zahlen sollen, werden sie verständlicherweise schwerhörig und<br />
verzichten auf so teure Lehrlinge. Außerdem: wie soll einer<br />
Buchbinder werden, wenn die Pappe fehlt, der Zwirn reißt, die<br />
Werkzeuge bloß zum Ansehen gut sind, aber beim Gebrauche<br />
schnell kaputt gehen? […]<br />
Morgen früh 6 35 fahre ich nach Dresden. Freilich so bei<br />
Nacht aufstehen und durch die Gegend fahren ist nicht gerade<br />
schön – aber diese Sache interessiert mich doch. Es ist mög-<br />
lich, daß da einem etwas eingefallen ist. Spiele mit Kurven, Flä-<br />
chen und Licht – das klingt recht verlockend, da werde ich die<br />
Abneigung gegen das Wegfahren überwinden. Abend 8 h bin<br />
ich wieder in meinem Bau. […]<br />
Gestern und heute wurden noch 4 Bände Galsworthy ge-<br />
bunden, noch nicht ganz fertig. Ich hab also 7 Bände von die-<br />
sem Autor. In einem lag noch ein Kassenzettel vom Mai 1923:<br />
da kostete so ein Band nicht mehr 1,60 M wie vorher, sondern<br />
4000 M, später 1,80 M und jetzt? Nicht zu haben.<br />
Gut, daß Du Montag in die Geigenstunde gehst.<br />
Montag, den 19. März<br />
Auf diesem Blatte wollte ich Dir von Dresden <strong>aus</strong> schrei-<br />
ben – aber ich kam nicht dazu. Früh (oder nachts) 6 35 fuhr ich<br />
mit dem Bus über Kriebethal nach Dresden und ging bei einer<br />
für Dresden unerwartet unangenehmen kalten Spätwinterluft<br />
nach der Technischen Hochschule, wo ich bereits ¼ 10 h einen<br />
guten Platz in dem riesigen Mathematikhörsaal besetzte. Und<br />
das war gut, denn 10 h als es los ging, standen viele Leute in<br />
den Gängen des mit 800 bis 1000 Menschen gefüllten Raumes.<br />
Der Professor Bereis 4 – ein Österreicher – sprach frei ohne je-<br />
den Zettel und führte, unterstützt von drei Assistenten, herrli-<br />
che Experimente vor. Modelle <strong>aus</strong> Draht und <strong>aus</strong> Perlon wurden<br />
mit einem winzigen Projektor angeleuchtet, auf einem schwarz<br />
gedeckten „Altar der Wissenschaft“ aufgestellt und von einem<br />
Assistenten in schwarzen Handschuhen bedient, so daß die Il-<br />
lusion eines Zauberers vollkommen war. Durch Pyramiden und<br />
Zylinder <strong>aus</strong> Perlongaze legten sich Lichtebenen, wandernd in<br />
einem gedrehten Zycloidenmodell. Seltsame Flächen erschie-<br />
nen, gebildet <strong>aus</strong> wandernden Kurven. Schraubtangenten<br />
tropften in Lichtpunkten. Spirische Kurven 4. Ordnung, Lemnis-<br />
4 Rudolf Bereis (1902–1966), Professor für Mathematik und theoretische Mechanik an<br />
der Technischen Hochschule Wien, 1957–1966 Direktor des Instituts für Geometrie<br />
an der Technischen Hochschule Dresden.<br />
Professor Bereis<br />
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