Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963 Lebendige Sprache<br />
heitsbericht, geschrieben von einem sehr gescheiten, sehr kühlen<br />
Menschen, der sich der Sprache bedient als ein höchst geschickter<br />
Kunstgewerbler des Wortes – und damit bis zu einer<br />
Grenze gelangt, wo diese Kunst anfängt, peinlich zu werden.<br />
Du wirst selber erleben, ob dieser Eindruck richtig ist; was ich<br />
hier meinte, ist das Urteil eines Wilden <strong>aus</strong> dem Urwald.<br />
Dieser Tage wird mir wieder deutlich, wie klärend das Wiederlesen<br />
alter guter Bücher ist. Ich las Nietzsches „Geburt der<br />
Tragödie <strong>aus</strong> dem Geiste der Musik“ und die ersten drei der<br />
„Unzeitgemäßen Betrachtungen“, deren Titel eine contradictio<br />
in adjecto ist: sie sind heute noch genau so zeitgemäß wie<br />
ehedem; manche Sätze sind durch den Zeitenlauf noch inhaltreicher<br />
geworden. Sind doch die ältesten Gedanken nur dann<br />
lebendige, wenn sie durch lebende Gehirne ziehen; ihre Conservierung<br />
in den Büchern entspricht dem in einem Akkumulator<br />
gespeicherten Strom, der Jahr und Tag dort warten kann<br />
bis er wieder eine Lampe leuchten macht. Und wenn jemand<br />
Bach spielt, ist die Musik das unmittelbare Weiterklingen in<br />
dem Musiker von dem, was im Komponisten tönte. Die Noten<br />
und die Jahre oder Jahrhunderte, die Meister und Schüler trennen<br />
(oder verbinden) sind stumm. War ein Kunstwerk – Plastik,<br />
Buch, Bild, Musik – jahrhundertelang vergraben, es ist, als<br />
ob diese Zeit überhaupt nicht gewesen wäre; das heißt: die ältesten<br />
Meister sind weit jünger als das die Mechanik des Kalenders<br />
meldet.<br />
1. Juni<br />
10 40 Eben erhalte ich Deine beiden <strong>Briefe</strong>. Recht herzlichen<br />
Dank. Nietzsche X, 144: „Die geistige Tätigkeit von Jahrt<strong>aus</strong>enden<br />
ist in der Sprache niedergelegt.“ 9 Vielleicht wäre<br />
das letzte Wort besser durch „lebendig“ zu ersetzen; denn das<br />
9 Nach der Ausgabe in <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Bibliothek: Nietzsche’s Werke. Zweite Abthei-<br />
lung. Bd. X: Nachgelassene Werke <strong>aus</strong> den Jahren 1872/73–1875/76, Leipzig<br />
1903, S. 144.<br />
in der Schrift oder im Druck festgelegte Wort ist solange tot,<br />
bis es ein Lebender <strong>aus</strong>spricht. Das ist doch z.B. mit solchen<br />
Handschriften der Fall, die bis heute noch niemand entziffern<br />
konnte, deren Sinngehalt also Geheimnis geblieben ist. Und<br />
wieviel Schönes bleibt verborgen, weil niemand es erkennt, betrachtet<br />
und in sich aufnimmt.<br />
4. Juni<br />
Zu der Bemerkung, daß in der Sprache geistige Bemühungen<br />
von Jahrt<strong>aus</strong>enden leben, wäre an die viert<strong>aus</strong>end Jahre alten<br />
Riesenbäume zu erinnern, in deren Körper und Belaubung<br />
Zellen von großen Altersunterschieden – jahrt<strong>aus</strong>endealte und<br />
eben entstehende – zu einem lebendigen Wesen vereinigt sind.<br />
Denke an Riesen im Weimarer Parke: die Rüstern mit Wurzeln,<br />
die sich vielleicht schon vor Goethe in den Boden drängten<br />
und mit den geflügelten Samen, die dieses Frühjahr wuchsen.<br />
Sie hörten wohl Goethesche Verse noch von ihm selber – und<br />
durch ihre Zweige schwingen heute die Radiowellen mit dem<br />
eben gesprochenen Worte.<br />
15. Juni<br />
Als ich hier ankam, traf ich einen alten <strong>Waldheim</strong>er, der seit<br />
Jahren in Reichenbach im Vogtlande den „Feuerpastor“ macht.<br />
Er war früher ein sehr strebsamer und belesener Arbeiter, dann<br />
Fleischbeschauer am Schlachthofe und wußte wunder was zu<br />
erzählen von meinen früheren Volkshochschulkursen, Sachen,<br />
die ich längst vergessen hatte, fragt um einiges über Rollands<br />
„Johann Christof“ und Hauptmanns „Eulenspiegel“ 10 . Da laufen<br />
also Leute herum, die früher von mir geprägte Sätze jahrzehntelang<br />
im Kopfe haben. Es ist doch kaum glaublich.<br />
10 Gerhart Hauptmann, Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magi-<br />
ers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume, Ber-<br />
108 109<br />
lin 1928.