Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1973 Ärzte am Wochenende<br />
13. Februar<br />
Heute vor 28 Jahren wurde meine Schwester 3 in Dresden<br />
von den Amerikanern ermordet. Das war auch ein Dienstag –<br />
wie heute – und gerade Fastnacht. Die „Geschichtsschreiber“<br />
berichten: „Sie kamen bei einem Bombenangriff um.“ Warum<br />
wählt man diese abschwächende Ausdrucksweise?<br />
20. Februar<br />
Die Frage nach der französisch-deutschen Literaturbezie-<br />
hung kommt von einem sehr netten Mann, Ingenieur, jetzt<br />
seit etwa zwei Jahren Rentner, der französisch und deutsch als<br />
Sprachen von Kindheit an beherrscht, in Genf geboren, Mutter<br />
Französin; er selber war oft viele Monate des Jahres als Ver-<br />
treter einer Augsburg-Nürnberger Weltfirma in Paris und Lon-<br />
don. Als Rentner legte er einen Garten an, studierte Botanik<br />
jetzt und Pflanzenphysiologie, zeichnete sich jede neu ge-<br />
sehene Pflanze in ein Skizzenbuch. Also ein sympathischer<br />
Mensch. Seine Kinder alle drei „Spätentwickler“, die zwei- bis<br />
dreimal im Gymnasium sitzen blieben und mühselig zum Abitur<br />
kamen – aber: der eine ging danach als „Entwicklungshelfer“<br />
in ein Elendsviertel von Negern in Amerika, kam mit sehr gu-<br />
ten Sprach- u. Menschenkenntnissen zurück und ist jetzt eine<br />
Art „Empfangschef“ bei AEG, wo er Ausländer (die für Millio-<br />
nen zuweilen ganze Elektrizitätswerke kaufen) in Nürnberg zu<br />
„betreuen“ hat, die ihm danach noch oft sehr dankbare <strong>Briefe</strong><br />
schreiben, spielt oft in der Lorenzkirche Orgel. Die Tochter ist<br />
Dolmetscherin eines großen Betriebes in Stuttgart, sie lernte<br />
Französisch in Paris, Englisch in London, erwarb dort Sprach-<br />
3 <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Schwester Josefa, seit 1916 als Zeichnerin im Elektrobetrieb Sachsen-<br />
werk Dresden tätig, machte sich selbständig und gründete mit einer Tschechin zu-<br />
sammen die Lichtp<strong>aus</strong>anstalt <strong>Pfeifer</strong> und Husek, die bis 1945 bestand. Die unver-<br />
käuflichen Exemplare von <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong>s Buch Technik der geistigen Arbeit (Dres-<br />
den 1914, Privatdruck) stapelten sich in ihrer Dresdner 5-Zimmerwohnung.<br />
diplome. Der jüngste Sohn, Cello- und Orgelspieler – dreimal<br />
sitzen geblieben – mußte Soldat werden, trat aber trotz güns-<br />
tiger Bedingungen nach sechs Monaten wieder <strong>aus</strong> und stu-<br />
diert Theologie.<br />
26. Februar<br />
Ärzte am Wochenende – ja, wenn ich den Betrieb bei Dr.<br />
Toepel beobachte, wird mir deutlich, daß der Arzt doch eben<br />
auch nur ein Mensch ist – kein Jupiter. Von Montag früh bis Frei-<br />
tag abend eine Hetzjagd durch eine Menge nicht vorhersehba-<br />
rer Fälle in Sprechstunden und Besuchen, am Sonnabend Er-<br />
ledigung besonders nötiger Krankenbesuche. Nachlesen über<br />
zweifelhafte Angelegenheiten quer durch das weitverzweigte<br />
Gebiet der verschiedensten Krankheiten. Berichte, Studium<br />
neuer und neuster Anordnungen der Medizinalbürokratie, der<br />
neuen Nummern von Fachzeitschriften. Wer dabei noch ein Ste-<br />
ckenpferd reitet, ist anzustaunen, wie etwa Dr. Büttner, der<br />
aber sich scheinbar vor einer Ausweitung der Praxis hütet.<br />
Sonst wäre nicht zu erklären, wie er neben seinem Berufe noch<br />
Zeit und Muße findet, im Aktenstaube der Vergangenheit her-<br />
umzustöbern. Er ließ ein Heft drucken – das ich Dir schicken<br />
werde – in dem er das Ergebnis seiner Nachforschungen über<br />
die ärztliche Versorgung der Stadt <strong>Waldheim</strong> von den Anfängen<br />
bis etwa zum Jahre 1900 (Dr. Mohr 4 wird noch genannt) mit der<br />
Genauigkeit eines Chronisten darstellt. Neben den Ärzten wer-<br />
den auch Zahnbrecher, Bader, Barbiere erfaßt. Solchen „Zeit-<br />
vertreib“ kann sich doch nur einer leisten, der an andern Stel-<br />
len Beanspruchungen abzuweisen versteht. Ich brauche keinen<br />
„Zeitvertreib“, weil ich keine Zeit habe, die vertrieben werden<br />
müßte. Bei Goethe heißt es: „Was aber ist deine Pflicht? Die<br />
Forderung des Tages!“ 5 Und diese „Forderung“, die mir ins<br />
4 S. Brief vom 26. Juli 1961, Anm.<br />
5 Maximen und Reflexionen (Hecker: 443).<br />
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