Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1970 Orakel von Delphi<br />
7. Januar<br />
Eine „Gesprächsrunde“ im Radio über „Bildungsreform“<br />
machte die ungeheure Schwierigkeit dieser Sache sehr deutlich.<br />
Grundsätzliches scheint unklar oder überhaupt nicht bewußt zu<br />
sein; klar nur, daß sehr viel Geld nötig ist – 30 Milliarden bis<br />
1975 – daß man „anfangen“ muß, daß der „Beamtencharak-<br />
ter“ des künftigen Lehrers, Professors etc., zu verschwinden<br />
habe, daß die jungen Leute zukünftig mit 30 oder 40 Jahren<br />
die Berufe wechseln, Assistenten, Lehrer in die „Industrie“ ge-<br />
hen sollen und umgekehrt, daß Leute <strong>aus</strong> technischen und in-<br />
dustriellen Berufen Lehrämter übernehmen – alles in allem ein<br />
Eindruck völliger Auflösung älterer Denkweisen. Daß das zu er-<br />
ziehende Kind mit seinen Wachstums- und Bildungsgesetzen<br />
der Hauptgegenstand solcher Überlegungen sein müßte – das<br />
scheint niemand zu sehen. Und doch schrieb bereits 1890 Wil-<br />
helm Dilthey zur Schulreform: Diese Schulreform findet nicht<br />
statt in den Konferenzräumen eines Ministeriums, sondern in-<br />
nerhalb der vier Wände der Klassenzimmer. 1 Das ist deutlich.<br />
Ich muß mich über eine Buchbindearbeit hermachen. Mein<br />
„Wörterbuch der obersächsischen und erzgebirgischen Mundar-<br />
ten“ ist zwar 1914 in grünes Leinen gebunden erschienen, aber<br />
man hat damals an Wesentlichem gespart, nämlich an der Qua-<br />
lität des Fadens und der Bindebänder, und so beginnen sich die<br />
Lagen zu lösen. Das ist für ein solches Werk recht gefährlich.<br />
Solche Arbeit hat mehr Schwierigkeiten als das Einbinden eines<br />
bisher nur broschierten Buches, na, geben wir uns Mühe. […]<br />
Ein elfjähriger Enkel von Frau Henschel schickte mir einen<br />
Neujahrsgruß und bedauerte, daß ich so weit weg wohne. Er<br />
hat zu Weihnachten ein Mikroskop bekommen und möchte sich<br />
dabei gerne beraten lassen von mir. Das ist nun einer von der<br />
1 Vgl. Schulreform und Schulstuben: „Wirkliche Reformen werden nur durch eine ste-<br />
tige schwere pädagogische Arbeit in den Schulstuben vollbracht.“<br />
nächsten Generation, so eine Art Urenkel. Ich komme mir bald<br />
vor wie das Orakel von Delphi. Das war der Nabel der Erde.<br />
Und die Wahrsagerin Pythia saß auf einem Dreifuß über einem<br />
Erdspalt, <strong>aus</strong> dem betäubende Gase strömten. Dieser Apparat<br />
fehlt mir.<br />
9. Januar<br />
In West-Berlin ist man mit Begräbnissen infolge der Wet-<br />
terlage sehr in Rückstand gekommen, so daß Särge mit Toten<br />
in Kühlhallen 3–4 Wochen aufbewahrt werden. Früher geschah<br />
ähnliches auf hochgelegenen Alpenhütten, da stand mancher<br />
Sarg im Winter lange im Schnee. Umgekehrt wurden jetzt zwei<br />
Waggons Bananen in einem Sitzungssaale aufgestapelt, sie vor<br />
Frost zu schützen; bald tropfte Schwitzwasser der Früchte von<br />
der Decke des Raumes, dessen Tapete sich löste, was zu erneu-<br />
ern nun dem Direktor zufällt, der die Anordnung gegeben hatte.<br />
Der Frost scheint nicht zu wissen, was er alles anrichtet.<br />
29. Januar<br />
Dank Leukoplast auf meinen Sohlen kam ich ohne Sturz<br />
bis zum Briefkasten und zurück über die Turmstraße, die als<br />
Anschauungslandschaft für den Geographie-Unterricht dienen<br />
kann, wenn von Gletschern die Rede ist. Und hier – wie überall<br />
– ist die Anschauung das Fundament aller Erkenntnis. Der Weg<br />
über den Friedhof ist zwar leichter zu steigen, er ist aber jetzt<br />
so spiegelglatt, daß es besser ist, ihn nicht zu benutzen. Stürzt<br />
einer dort, kann er unter Umständen über Nacht liegen bleiben,<br />
weil gerade niemand kommt, ihm auf die Beine zu helfen. Das<br />
5 cm breite Leukoplast wird also am besten vor einem Bein-<br />
bruch angewendet. Sohle und Absatz damit bepflastert, kom-<br />
men nicht so leicht ins Rutschen.<br />
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