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Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

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1961<br />

24. August<br />

Reinhard hat sich so zum Landpastor entwickelt, obwohl<br />

das Lieberose sich „Stadt“ nennt, mit 2000 Einwohnern. Da er-<br />

fuhr ich, daß Albrecht Tunger 25 (Kantor in Davos) jetzt eine Wo-<br />

che hier ist und mich mal sprechen wollte. Um ihn nicht ver-<br />

geblich laufen zu lassen, war ich vorhin mal dort. Er arbeitete<br />

in der Kirche – in einem schönen, hinter der Kanzel befindli-<br />

chen großen Raum – an der Durchforschung alter kirchenmusi-<br />

kalischer Akten und wollte einiges zur Stadtgeschichte wissen.<br />

Er ist Mitarbeiter an einem internationalen musikalischen Quel-<br />

lenlexikon und hat auch in dieser Eigenschaft die Einreisege-<br />

nehmigung bekommen. Die Redaktion des Werkes sitzt in Pa-<br />

ris, die DDR und Polen gehören nebst den Westländern zu den<br />

Staaten, die sich an der Arbeit beteiligen. Es ist erstaunlich, wie<br />

hier mit größter Genauigkeit allerhand alten Kantoreien, Kir-<br />

chenmusiken, Noten vor allem, nachgespürt wird, welche Mühe<br />

man sich macht, Sachen wieder aufzufinden, die durch die Un-<br />

achtsamkeit früherer „Verwalter“ solcher Dinge verlorengegan-<br />

gen sind; z.B. Noten von Motetten, die nur handschriftlich exis-<br />

tieren – und von denen eine oder zwei Stimmen fehlen. Wie<br />

vieles mag verbrannt worden sein, oder an die falsche Stelle<br />

gelegt ohne zu ahnen, daß sich nach drei Jahrhunderten einer<br />

damit befaßt, das Verschwundene zu suchen.<br />

25 Frucht der musikwissenschaftlichen Arbeit in der Bibliothek der <strong>Waldheim</strong>er Stadt-<br />

kirche St. Nicolai waren Neu<strong>aus</strong>gaben der Rosenmüller-Kernsprüche und der<br />

Calvisius-Motetten im Hässler-Verlag Stuttgart 1965 und der Aufsatz 400 Jahre<br />

<strong>Waldheim</strong>er Kantorei (Privatdruck). Die Zuarbeit zum internationalen, von der<br />

UNESCO geförderten Quellenlexikon der Musik Répertoire international des sour-<br />

ces musicales (RISM) beschränkt sich auf den Schwanen Gesang, <strong>aus</strong> dem 90.<br />

Psalm Davids, Vers 10 von Sethus Calvisius, veröffentl. 1972 im Bd. Einzeldru-<br />

cke vor 1800.<br />

27. August<br />

Hier montieren die Leute ihre West-Fernsehantennen wie-<br />

der ab, nachdem auf einem mehrere Quadratmeter großen Pla-<br />

kat die angeprangert waren, die welche hatten. Warum man<br />

die Dinger ihnen erst für teures Geld verkauft hat, ist schwer<br />

zu begreifen.<br />

30. August<br />

Morgen haben die Schüler hier „Tag der Bereitschaft“ 26 , d.h.<br />

sie bekommen die Stundenpläne! Es ist doch erstaunlich, wie<br />

man für ganz nebensächliche Dinge – die sich unter Umständen<br />

schon in der ersten Woche nicht durchführen lassen, großspu-<br />

rige Vokabeln bereit hat. Da wollen etwa zwei Klassen zugleich in<br />

dasselbe Zimmer, oder zwei Lehrer in dieselbe Klasse, weil Zim-<br />

merpläne mit Lehrerplänen und Klassenplänen nicht übereinkom-<br />

men – ich bin froh, damit heute nichts mehr zu tun zu haben.<br />

In der Einleitung von Jacob Burckhardts „Griechischer Kul-<br />

turgeschichte“ wird gemahnt, den humanistischen „Schulsack“<br />

in Ehren zu halten, um ein persönliches Verhältnis zu den Auto-<br />

ren der Antike zu gewinnen. „Man weiß nie zu viele Sprachen.“<br />

– „Wohl berechtigt ist die Beihilfe von Übersetzungen und<br />

Kommentaren, welche durchgängig und gut vorhanden sind.<br />

Es ist keine Schande, mit Thukydides nicht ohne Hilfe fertig<br />

zu werden, da Dionys von Halikarnass und Cicero bekennen,<br />

ihn nicht überall zu verstehen, und zwar wegen der Ausdrucks-<br />

weise. Wer ohne Hilfe vordringen will, läßt ihn unterwegs bald<br />

irgendwo liegen, statt ihn ganz durchzulesen. Weiter muß uns<br />

zum Ganzdurchlesen der Autoren die Einsicht bestimmen, daß<br />

das, was für uns wichtig ist, nur wir finden.“ Und mit diesen<br />

26 In der DDR letzter Ferientag der Schüler vor Schuljahresbeginn, an dem organi-<br />

satorische Fragen (Stundenplan, Verkehrsverbindungen für Auswärtige u.a.) be-<br />

sprochen, Schulbücher <strong>aus</strong>gegeben und gegebenenfalls politische Tagesfragen<br />

behandelt wurden.<br />

Der humanistische „Schulsack“<br />

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