Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1971 New Education Fellowship<br />
keine Baubehörde kennt und der auf keiner Karte verzeichnet<br />
ist. Darin findet sich außer dem sehr interessanten Gewächsh<strong>aus</strong>e<br />
ein Sammelsurium sehr verschiedener Sachen:<br />
alte Uhren, alte Geigen, Dreschflegel, Hufeisen, die für hufkranke<br />
Pferde nach Maß angefertigt sind, alte Spieldosen (alles<br />
spielbar!), Muscheln, Steine, eine riesige Briefmarkensammlung,<br />
alte Bücher, Bierhumpen, Apothekengeräte, Waffen-Raritäten,<br />
die von ganz verschiedenen Wünschen von Menschen<br />
verschiedener Zeiten gefertigt worden sind, alte Möbel, Zinngeräte.<br />
Wenn das geschickt an die verschiedenen Sammler verkauft<br />
würde – es käme ein schönes Stück Geld her<strong>aus</strong>. In einer<br />
geräumigen Werkstatt mit Werkzeugen sehr verschiedener<br />
Gewerbe setzt er jedes Stück soweit wieder in Stand, daß es<br />
benutzbar ist. Der Mann selber ist ein Museumstück, mit seiner<br />
lebhaften Erzählergabe, erstaunlich. Er ist als Sohn eines<br />
französischen Studenten des Technikums Mittweida bei Pflegeeltern<br />
in R<strong>aus</strong>chenthal aufgewachsen. Sein daher stammendes<br />
französisches Temperament ist unverkennbar, es erklärt manches.<br />
Seine Kriegserinnerungen behielten Erstaunliches; er hat<br />
als Fahrer des Generals Speidel viele Länder Europas durchfahren<br />
und dabei Phantastisches erlebt, das nicht erfunden sein<br />
kann. Spät fuhr er mich dann in meine Turmstraße, das sparte<br />
mir diese Bergwanderung.<br />
11. November<br />
Gestern wurde daran erinnert, daß vor 50 Jahren die „Psychologischen<br />
Typen“ von C. G. Jung erschienen sind, sechs<br />
Vorträge dieses Schweizer Gelehrten und Schülers von Freud<br />
durfte ich 1923 von ihm hören und <strong>aus</strong> dem Englischen dolmetschen<br />
auf der Konferenz der „New Education Fellowship“ in<br />
Montreux am Genfer See. Da hielt man mich für „einen Enggländer“,<br />
so sagte jemand <strong>aus</strong> der Schweiz. Das ist also ein halbes<br />
Jahrhundert her, daß ich diesen See erlebte und an Byrons<br />
Insel spazierte, an Chateau Chillon. Da war es herrlich warm.<br />
12. November<br />
In einer Besprechung eines Stückes moderner Musik sagte<br />
ein „Sachverständiger“, daß der besprochene Komponist in<br />
sein Werk „aktuelle Geräusche einmontiert“ habe! Das bestä-<br />
tigt meine Auffassung, daß moderne Kunst – aller Art: Litera-<br />
tur, Musik, Malerei und vieles sonst – Ingenieurarbeit ist, daß<br />
also Konstruktives, Maschinelles dort entsteht, wo früher das<br />
Genie am Werke war, das beim Ingenieur nur noch in der Be-<br />
rufsbezeichnung vorherrscht, in einem Berufe, der es vor allem<br />
mit dem zu tun hat, was auf mathematischen Grundlagen be-<br />
ruht. Ist das etwa bei Lyrik denkbar? Das zu begreifen, fällt mir<br />
schwer. Freilich, schon Spinoza schrieb eine „Ethica more geo-<br />
metrico demonstrata“.<br />
29. November<br />
Daß eine Dichtung – wie Schillers „Tell“ oder „Wallenstein“<br />
– nicht als „Geschichtsquelle“ anzusehen ist, versteht sich. Das<br />
Kunstwerk wächst in anderer Weise als die sogenannte „exakte<br />
Forschung“, von der bezweifelt werden kann, welcher Grad von<br />
Genauigkeit überhaupt erreichbar ist. Ranke wollte erzählen,<br />
„wie es wirklich gewesen“ 14 ist – ein großer Vorsatz. Nur bleibt<br />
es fraglich, ob so etwas überhaupt möglich ist. Jean-Marie Gu-<br />
yau, ein französischer Philosoph, schrieb den Satz: „L’humanité<br />
marche enveloppée dans la voile inviolable de ses illusions“<br />
= „Die Menschheit schreitet dahin, eingehüllt in den unverletz-<br />
baren Schleier ihrer Illusionen“ – das kann man wohl kaum wi-<br />
derlegen. Vorwissenschaftliche geistige Haltungen beeinflussen<br />
zu oft schon die Wahl der Quellen, der Stoffe, der Akzente, die<br />
der „Wissenschaftler“ setzt. Naturwissenschaften können Expe-<br />
rimente wiederholen und die Vorgänge erneut betrachten – Ge-<br />
schichte ist einmalig und nicht wiederholbar.<br />
14 Bei Leopold von Ranke (1795–1886) „eigentlich“ statt „wirklich“. In: Sämmtliche<br />
Werke. Bd. 33/34, Leipzig 1874, S. VII.<br />
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