Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1972 „Helden der Geschichte“<br />
[17. Juli] Montag<br />
Im Radio kam ein klärendes Bild von dem ehemaligen Leip-<br />
ziger Oberbürgermeister Goerdeler 18 , der in Hitlers Auftrag im<br />
Februar 1945 ermordet wurde. Eine Luftwaffenhelferin hatte sich<br />
die <strong>aus</strong>gesetzte Prämie von 100 000 Mark „verdient“, dadurch,<br />
daß sie ihn auf einem Bahnhof erkannte und rasch anzeigte.<br />
Goerdeler war im Jahre 1944 in einem Komplott von Generälen;<br />
er wollte, daß Hitler festgenommen und von einem ordentli-<br />
chen Gericht zur Verantwortung gezogen werde. Das „Attentat“<br />
Stauffenbergs lehnte er ab, um einen neuen Staat nicht mit der<br />
Ermordung Hitlers zu beginnen. Zehn Wochen später etwa kam<br />
„der Führer“ durch Selbstmord um. An die Jagd auf Goerdeler<br />
erinnere ich mich noch. Es war eine furchtbare Zeit.<br />
22. Juli<br />
Hitler erbaute sich am Anblick der Filme, auf denen 1944<br />
(und wohl schon vorher) die Hinrichtungen der Verschwörer vom<br />
20. Juli 1944 aufgenommen worden waren. Der Prolet, der Ge-<br />
freite des ersten Weltkrieges genoß die von ihm verfügte Ermor-<br />
dung von Generälen <strong>aus</strong> alten Adelshäusern. Napoleon mordete,<br />
ebenso wie Stalin. Man könnte eine Sammlung von Biographien<br />
„Helden der Geschichte“ zusammenstellen – lauter Henkers-<br />
knechte. Von Kain bis heute! Aber sie werden heutzutage alle<br />
freigesprochen, und eine verbrecherfreundliche Psychoanalyse<br />
liefert die Vorwände, jede Untat zu rechtfertigen, zu erklären.<br />
18 Carl Friedrich Goerdeler (1884–1945), 1930–1937 Oberbürgermeister von Leipzig,<br />
hatte Verbindung zur Opposition gegen Hitler, sowohl im Oberkommando der<br />
Wehrmacht als auch im Kreisauer Kreis. Als Kanditat für den zukünftigen Reichs-<br />
kanzler <strong>aus</strong>ersehen, wurde er 1944 verhaftet, zum Tode verurteilt und kurz vor<br />
Kriegsende 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.<br />
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29. Juli<br />
Das hat Hesse freilich nicht verdient, von den Nichtstuern<br />
zum Heiligen ernannt zu werden. Es ist schon so, wie ich Dir<br />
gestern schrieb: in den Jahren von vielleicht 1880 bis 1950 wur-<br />
den die Menschen bis aufs äußerste gequält, geängstet, mit<br />
Arbeit beladen, und die Nachkriegsgeneration erholt sich von<br />
den Mühen der Großväter. Denke an die schlimmen Jahre, die<br />
Dein Vater 19 zu überstehen hatte: die Glasfabrik, die Schule,<br />
der Dienst in den Krankenhäusern (12 Stunden mindestens täg-<br />
lich). Und das war kein Einzelschicksal. Es hatte damals z.B. in<br />
Zschopau noch die „Streichschule“ gegeben: in Stoffdrucke-<br />
reien wurden Kinder von 6–8 h früh in einer Fabrik damit be-<br />
schäftigt, die Holzplatten, in die Muster für Stoffdruck geschnit-<br />
ten waren, mit Farbe zu bestreichen und dem Drucker zu rei-<br />
chen, der sie auf Stoff („Blaudruck“) für Schürzen und Kleider<br />
abdruckte. Nach der Schule ging die Arbeit weiter. Andre Kin-<br />
der hatten nachmittags Schule und arbeiteten in der Fabrik,<br />
wenn die erste Abteilung in der Schule war. Erst ab 1897 ging<br />
man daran, die Kinderarbeit in Fabriken abzuschaffen; das ging<br />
nicht schnell, denn die „heilige Wirtschaft“ widersetzte sich<br />
solchen Eingriffen. Die Arbeitsbelastung der Erwachsenen war<br />
auch wesentlich größer als etwa nach 1950. Und die neue Ge-<br />
neration ruht sich nun von den Anstrengungen der Großväter<br />
<strong>aus</strong>. Die Langeweile zu vertreiben braucht sie „Unterhalter“. Da<br />
ist für einige Zeit Hermann Hesse dran.<br />
13. August<br />
Vor einiger Zeit las ich von Franz Kafka ein Roman-Frag-<br />
ment, „Das Schloß“, <strong>aus</strong> dem ich nicht klug werden konnte.<br />
Da gab mir am vorigen Sonntage Dr. Toepel ein in den hiesigen<br />
19 Georg Sauer schrieb eine Selbstbiographie, die <strong>Arthur</strong> <strong>Pfeifer</strong> einband, s. auch Brief<br />
vom 14. März 1966.