Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963<br />
5. Juli<br />
Bring mich nicht auf mit „Gewi“ 11 – so blöde wie die Be-<br />
zeichnung ist die Sache. Weißt Du vielleicht, was Politökonomie<br />
ist? Ich nicht. Aber ich sehe, daß es Teilstücke sind im größten<br />
Abschnitt der „Geschichte der menschlichen Dummheit“.<br />
Kindergartenkinder waren in der Regel nur frecher im 1.<br />
Schuljahre als die von der Straße Kommenden. Kindergarten<br />
wurde erfunden als Behelf zur Ermöglichung der Frauenarbeit,<br />
zur Fütterung des Kapitalismus, den man <strong>aus</strong>zurotten vorgibt,<br />
aber nur intensiver entwickelt.<br />
Gerade als ich an Seidel in Schwerte dachte, erhielt ich ei-<br />
nen interessanten Brief von ihm. „Wenn sich Deutsche <strong>aus</strong> Mit-<br />
tel- und Westdeutschland treffen wollen, müssen sie es in Bu-<br />
dapest oder am Plattensee vereinbaren, da geht es.“ Was er<br />
über die Schule schreibt, ist wenig erbaulich. Und was hier<br />
dazu zu sagen ist, ist es ebensowenig. „Und Gott sah an al-<br />
les, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ [1. Mose<br />
1,31] – inzwischen haben sich die Konstruktionsfehler gewaltig<br />
entwickelt und das „bomböse“ Ende des ganzen Zaubers liegt<br />
nicht mehr sehr ferne. […]<br />
Aber ich will aufhören, sonst komme ich ins „Raisonnie-<br />
ren“ und schlage irgendetwas klar. Stell Dir in meinem Namen<br />
eine Blume in eine Vase, denke an Stifter oder Storm und sei<br />
unzeitgemäß!<br />
16. Juli<br />
Kleine interessante Begebnisse sind zuweilen sehr erleuch-<br />
tend. Der Neffe der Ph. R., Candidat der Chemie in Wien, der<br />
sehr gern mal wieder hierher zu Besuch käme, wagt das des-<br />
halb nicht, weil ihm dadurch ein in Aussicht stehender Studien-<br />
11 Gesellschaftswissenschaft: Obligatorisches Studienfach an den Universitäten der<br />
DDR, das die ideologischen Grundlagen des Sozialismus vermittelte.<br />
aufenthalt in Amerika zu nichte gemacht würde, wie das andre<br />
Commilitonen bereits erlebt haben. Das sind doch sehr vielsa-<br />
gende „Vorsichtsmaßregeln“ einer freien Demokratie (USA). Zu<br />
Deutsch: Müssen die Leute eine Angst haben! Anderseits: Wie<br />
ekelhaft ist diese von Spionage und Verdächtigung unterwühlte<br />
Welt! Die menschliche Beziehung spielt gar keine Rolle vor den<br />
sogenannten „Erfordernissen der Staatsraison“, die mit Raison<br />
nichts mehr zu tun hat.<br />
2. August<br />
In Goethes Arbeit über Winckelmann steht eine sehr beach-<br />
tenswerte Kritik an der Schulbildung: „… seitdem es den Erzie-<br />
hungskünstlern gelungen ist, dem Genius der Zeit gehorchend,<br />
die meisten zur Veredlung und Würde des Geistes führenden<br />
Studien zu verseichten, und die besten Kräfte fast allein sol-<br />
chen Wissenschaften zuzuwenden, wodurch Gewerbe und Fi-<br />
nanzen und Krieg zu Lande und zu Wasser gedeihen, seitdem<br />
bleibt für jemand, der hie und da den unverdorbenen Jüng-<br />
ling mit fremder Stimme in ein edleres Leben rufen möchte,<br />
außer den Alten, die man <strong>aus</strong> ihren Schulwinkeln noch nicht<br />
ganz verdrängte, nichts anderes übrig, als Geschichte der Er-<br />
ziehung und Bildung von Männern, die im Kampf mit den Hin-<br />
dernissen der Zeit und den innern Schwierigkeiten der Sachen<br />
durch angestrengte Kraft das Höchste in dem gewählten Kreise<br />
erstrebten.“ 12<br />
Was wäre von ihm zu erwarten, sollte er über die „Er-<br />
ziehungskünstler“ der Gegenwart ein kräftig Wörtlein sagen?<br />
„Fortschritt“ heißt die Parole. Wovon wird „fort“ geschritten?<br />
Wohin lenkt der sogenannte Zeitgeist die Schritte? Worin ist<br />
z.B. der kulturelle Gewinn der Flugtechnik zu sehen? Daß man<br />
12 Gemeint ist hier der Aufsatz Winckelmann III, den Friedrich August Wolf auf Bitten<br />
Goethes verfaßte.<br />
Erziehungskünstler<br />
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