Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

1969 Phänologischer Wetterdienst
men, daß aber alles Gefühls- und Willensmäßige sich durch
Jahrtausende gleich bleibt: der „Wille zur Macht“ war bei Xerxes
oder Alexander oder Nero nicht anders als bei Hitler oder
Stalin oder bei einem kleinen Hausbesitzer, der seine Mieter
schikaniert, „Hausordnungen“, „Waschhausregelungen“ aufstellt,
wobei es gar nicht um die Beseitigung des Staubes geht,
sondern um die Ausübung der „Befehlsgewalt“. Man muß lernen,
mit Roentgen-Augen die Konstruktionsgerüste im seelischen
Getriebe der Menschen zu erkennen.
1. März
Ich las wieder den Aufsatz 6 von Hermann Hesse über die
Brüder Karamasoff vom Jahre 1919 – inzwischen ging ein halbes
Jahrhundert dahin. Auch ein kluger Mann kann auf einen
Holzweg geraten.
3. März
Ich las einiges von Hermann Hesse. Die Arbeit „Kinderseele“
wäre eine sehr geeignete Grundlage für einen Kurs
über „Kinderpsychologie“ mit Eltern und Lehrern. Wer daraus
nichts zu lernen vermag, soll sich nicht mit Kindern befassen,
soll auch keine „Lehrbücher der Psychologie“ schreiben. Aber
das wissen diese Leute meist nicht. Was gebraucht wird, kennen
sie nicht, und was sie „kennen“, wird nicht gebraucht. Sie
wollen „die Welt verändern“ ohne zu ahnen, daß sie sich erst
selbst verändern müßten.
15. März Sonnabend 16 h
Vorhin zählte ich zwanzig Vögel an meinem Fenster: 2 Amseln,
4 Heckenbraunellen, 2 Zaunkönige und ein Dutzend Grün-
6 Hermann Hesse, Fedor Michailowitsch Dostojewski. Die Brüder Karamasoff (Rez.).
In: Vivos voco, (Leipzig, Bern) 1919/1920, 1, S. 201, oder: Die Brüder Karamasoff
oder der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskis. In: Die neue
Rundschau, (Berlin) 1920, 31, S. 376–388.
finken. Diese große Gesellschaft räumt mal ordentlich auf. Nur
die Eichhörnchen fehlten. Eine Haubenmeise kam auch, also 21!
Jetzt koch ich einen Tee, um den Rum etwas zu verdünnen,
obwohl er auch unverdünnt genießbar ist.
Montag. Wer Winterlandschaft liebt, kann sie sich hier an-
sehen; nur ein geübter Naturbeobachter kann leise Andeutun-
gen des Frühlings wahrnehmen: Knospen der Corneliuskirsche,
leicht nach oben gebogene Ästchen an Bäumen, hellere Tö-
nung der Rinde von Zweigen der Weide – und die Ankündi-
gungen von Frühjahrskleidern in den Textilgeschäften. Das hat
freilich mit dem Laufe der Jahreszeiten weniger zu tun als mit
dem Anreizen zu Geldausgaben für meist recht geschmacklose
Dinge, aber „man trägt jetzt…“ Wer ist denn dieser befehlende
„man“? Zunächst wohl der, der das Geld haben will. Da liegen
noch seltsame Schatten kapitalistischer Wirtschaftsweisen auf
dem sozialistischen Paradiese.
28. März
Heute morgen sieht man das gewohnte Bild des reichli-
chen Schneefalls – immer das gleiche, Gärten und Dächer, Wäl-
der und Zäune weiß, die kleinen Trupps vorwitziger Schnee-
glöckchen müssen einen neuen Krater schmelzen, um aus dem
Schnee an die Luft zu kommen. Crocus blühen noch nicht, auch
nicht die Corneliuskirsche. Primula Juliae, die kleine rotblü-
hende erste Primel, ist nicht zu sehen; sie galt früher im phäno-
logischen Wetterdienst als erster Bote des Frühlings. Was „phä-
nologischer Dienst“ ist? Eine Art der Wetterbeobachtung, die
sich nicht der physikalischen Meßinstrumente – Thermometer,
Barometer, Hygrometer – bedient, sondern das Wachsen und
Blühen einer ausgewählten Reihe von Garten-, Wiesen-, Feld-
und Waldgewächsen nach den Tagen des Erblühens notiert und
so ein gewissermaßen gewachsenes Bild vom Wechsel der Jah-
reszeiten zustande bringt (phänologisch vom Phänomen, dem
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