Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1963 Das Kolbe-Kind<br />
– in 50 Minuten – von hier nach Berlin kommen kann, daß es<br />
aber in 45 Minuten möglich war, Jahrhunderte angesammelte<br />
Kulturschätze in Dresden zu zerstören! Freilich, Schule, Film,<br />
Zeitung, Radio prägen den armen Teufeln ein, das sei eben<br />
„Fortschritt“, das muß man „anerkennen“, „bewundern“, „vor-<br />
antreiben“. Dabei ist dieses „man muß“ das Empörende. Den-<br />
ken ist von vorn herein verdächtig, man hat zuzustimmen, „das<br />
gehört sich“. – Oder ist Goethe veraltet?<br />
20. August<br />
Heute wagte ich es, den Ofenrußer Jahn, der im Häusel gear-<br />
beitet hatte, auf der Straße anzureden und dazu zu bringen, daß<br />
er heute in 8 Tagen nach ½ 5 h meinen Ofen rußen will – vor<strong>aus</strong>-<br />
gesetzt, daß ich einen Lehmziegel beschaffe. Es geht doch nichts<br />
ohne eine Komplikation; nun suche ich den zu ergattern. […]<br />
Nachmittags: Ha – ich hab einen Lehmziegel ergattert! Das<br />
erste Hindernis ist also beseitigt. – Dann gab ich Metzner das<br />
geliehene Buch 13 von Victor Mann zurück. Er kam auf das Kol-<br />
bekind auf dem Friedhofe und sagte, daß kein Mensch sa-<br />
gen könne, was es bedeute. Worauf ich nur antworten konnte:<br />
„Vielleicht mich <strong>aus</strong>genommen.“ Als ich ihm nun sagte: Hier<br />
l<strong>aus</strong>cht ein Kind an der Stätte des Todes auf den Pulsschlag<br />
des Lebens in dem Herzen des Vogels, den es an sich drückt<br />
– da machte er große Augen. Und bat mich, ihm das aufzu-<br />
schreiben, was ich zu den Kolbefiguren 14 zu sagen wüßte, die<br />
auf dem Friedhofe stehen. Komisch, daß ein Heide den Erklä-<br />
13 Wir waren fünf, Konstanz 1949.<br />
14 Mit dem in <strong>Waldheim</strong> geborenen Bildhauer Georg Kolbe (1877–1947) fühlte sich Ar-<br />
thur <strong>Pfeifer</strong> geistig eng verbunden. Er besuchte Kolbe mehrfach in Berlin, sprach<br />
1948 auf einer <strong>Waldheim</strong>er Gedenkfeier für den Bildhauer und schrieb in den<br />
siebziger Jahren einen längeren Begleittext für die von ihm zusammengestellte<br />
Mappe mit Abbildungen der <strong>Waldheim</strong>er Kolbe-Plastiken. S. auch Brief vom 14.<br />
September 1972.<br />
rer machen muß. Dabei ist in dem oben stehenden Satze nicht<br />
mehr gesagt als was jeder sehen kann: das Kind „l<strong>aus</strong>cht“,<br />
das zeigt die Haltung des Kopfes und der Ausdruck der Augen<br />
– an der Stätte des Todes: der Stein ist von Anbeginn für den<br />
Friedhof bestimmt, für das Grab der Eltern. Und den angedrück-<br />
ten Vogel sieht auch jeder. Diese Allverständlichkeit für den<br />
wachen Betrachter ist auch so ein Kennzeichen echter Kunst.<br />
Diese Plastik braucht so wenig eine „Erklärung“ wie Mozarts<br />
„Nachtmusik“.<br />
22. August<br />
Dr. Schumann, den ich beauftragte, seinen Sohn um eine<br />
knappe Zusammenfassung der Grundlehren des Existentialis-<br />
mus zu bitten, berichtet, daß dieser Studienrat auch nichts Zu-<br />
längliches davon weiß. Ob ich nun mal bei Sartre in Paris an-<br />
frage oder bei Jaspers in Basel? Aber die antworten wohl nicht.<br />
Und so geht man <strong>aus</strong> der Welt, ohne Wesentliches über geis-<br />
tige Verhältnisse seines Lebensabends zu wissen. Und Erich<br />
Kästner gesteht in einem Aufsatz 15 , daß er mit einem Pack von<br />
Büchern dieser Art in ein einsames, verregnetes Dorf gefahren<br />
– nur zu diesem Zwecke, Klarheit darüber zu gewinnen, des-<br />
halb der Regen – aber er habe von den Büchern nichts ver-<br />
stehen können. Vielleicht ist der Verstand als solcher <strong>aus</strong> der<br />
Mode gekommen? Man kann den vielleicht ebenso abschaffen<br />
wie die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Mir gefällt das gar nicht,<br />
so wenig wie das jetzt herrschende kalte Regenwetter, wie al-<br />
les Herrschende.<br />
23. August<br />
Dienstag gegen 5 h nachm. erwarte ich den Ofenrußer, seit<br />
Jahren, den kann ich nicht verschieben (aber vielleicht ver-<br />
15 Ist Existentialismus heilbar? In: Die kleine Freiheit, Zürich und Berlin 1952.<br />
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