05.12.2012 Aufrufe

Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

1975 „Der Archipel Gulag“<br />

troffen sein. 1,2 Millionen Kubikmeter Holz riß der Sturm um,<br />

als ob er Vergißmeinnicht pflückte. Und für heute abend wer-<br />

den neue Stürme erwartet.<br />

7. Januar<br />

Regenschirme werden wieder vorüber getragen, schein-<br />

bar wird der Atlantische Ozean als Regen über Europa <strong>aus</strong>ge-<br />

gossen. Da ist es also ganz gut, nicht an einem Flußrande zu<br />

wohnen, sondern auf dem Berge, so schwierig es ist, hinauf<br />

zu kommen. Aber einer Überschwemmung ist diese Wohnlage<br />

doch vorzuziehen.<br />

In einem alten Hefte über <strong>Waldheim</strong>, das vor dem ersten<br />

Weltkriege gedruckt ist und außer dem Text Inserate von Wald-<br />

heimer Geschäften und Betrieben enthält, kann man erfahren,<br />

was seit jener Zeit alles verschwunden ist: Geschäfte, Vereine<br />

und dergleichen. Dabei ist noch nicht einmal alles festgehalten,<br />

dessen man sich noch erinnern kann. Und dieses Welken einer<br />

Stadt mag an anderen Orten ähnlich vor sich gegangen zu sein.<br />

Das „verwirrte Handeln“, von dem Goethe fünf Tage vor seinem<br />

Tode schrieb, scheint sich fortzusetzen.<br />

9. Januar<br />

Eine Vorlesung <strong>aus</strong> dem Buche von Solshenizyn, „Der Ar-<br />

chipel Gulag“, brachte Furchtbares zu Gehör. Diese Welt ist<br />

zum Untergange reif. Kein Wunder, daß die Sonne sich das<br />

nicht mehr ansehen mag. Eine klägliche Rolle spielte M. Gorki 1<br />

1 Vom 20.–23. Juni 1929 besuchte Maxim Gorki (1868–1936) das sowjetische Arbeitser-<br />

ziehungslager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer; obwohl er die inszenierte<br />

Vorführung der guten Lebensbedingungen der Gefangenen sehr wohl durch-<br />

schaute und ein mutiger Junge ihm die Unmenschlichkeit des Lagerregimes ge-<br />

schildert hatte (er wurde nach Gorkis Abreise mit 300 anderen erschossen), lobte<br />

Gorki die Einrichtung, vgl. Solshenizyn, Der Archipel GULag. Folgeband: Arbeit<br />

und Ausrottung, Seele und Stacheldraht, Bern 1974, S. 58–61; vgl. auch Dmitri<br />

in dem Berichte. Etwas Intelligenz allein und ein geschicktes<br />

Durchsetzungsvermögen, die eigenen Interessen vorteilhaft zu<br />

lenken, genügen nicht, einen „erfolgreichen Schriftsteller“ zu<br />

einem bedeutenden Menschen zu entwickeln. Das zu beobach-<br />

ten gaben die letzten Jahrzehnte mehrfach gute Gelegenheiten,<br />

und recht trostlose Helden des Tages dämpfen jede Begeiste-<br />

rung. Sich mit Pflanzen und Tieren zu befassen, erscheint sinn-<br />

voller als jede Betrachtung menschlicher – meist unmenschli-<br />

cher – Verhaltensweisen.<br />

13. Januar<br />

Von Dr. Toepels soll ich Dich herzlich grüßen. Ein Traktorist<br />

<strong>aus</strong> Schönberg 2 , der mich gestern zu Dr. Toepel fuhr und der<br />

den „F<strong>aus</strong>t“-Kurs mitgemacht hatte, bat mich um eine Fortset-<br />

zung mit Shakespeare. Dazu werde ich mir nun etwas einfal-<br />

len lassen müssen. Vielleicht beginne ich mit dem „Sommer-<br />

nachtstraum“. Erst muß ich meine „Frühjahrs-Müdigkeit“ wirk-<br />

sam bekämpfen. Das ist eine lästige Sache. Fleiß ist nur an<br />

meinem Futterplatze am Fenster zu beobachten.<br />

17. Januar<br />

Spengler ahnte mit seinem „Untergang des Abendlandes“<br />

den Gang der Weltgeschichte. Als das Buch erschien, glaubten<br />

wir noch, uns gegen diesen Verlauf wehren zu können! Aber die<br />

Übel waren stärker.<br />

5. Februar<br />

Dienstag abend brachte das Radio eine Darstellung von der<br />

Zerstörung von Dresden am 13. Februar 1945. Dar<strong>aus</strong> wurde<br />

S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und<br />

Perestroika, Ostfildern 1997, S. 95–114.<br />

2 Reinhard Mehnert; nach einer Schlosserlehre nahm er ein Theologiestudium am<br />

Paulinum in Berlin auf.<br />

362 363

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!