Arthur Pfeifer Briefe aus Waldheim 1960–1976 - Freundeskreis ...
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1975 „Der Archipel Gulag“<br />
troffen sein. 1,2 Millionen Kubikmeter Holz riß der Sturm um,<br />
als ob er Vergißmeinnicht pflückte. Und für heute abend wer-<br />
den neue Stürme erwartet.<br />
7. Januar<br />
Regenschirme werden wieder vorüber getragen, schein-<br />
bar wird der Atlantische Ozean als Regen über Europa <strong>aus</strong>ge-<br />
gossen. Da ist es also ganz gut, nicht an einem Flußrande zu<br />
wohnen, sondern auf dem Berge, so schwierig es ist, hinauf<br />
zu kommen. Aber einer Überschwemmung ist diese Wohnlage<br />
doch vorzuziehen.<br />
In einem alten Hefte über <strong>Waldheim</strong>, das vor dem ersten<br />
Weltkriege gedruckt ist und außer dem Text Inserate von Wald-<br />
heimer Geschäften und Betrieben enthält, kann man erfahren,<br />
was seit jener Zeit alles verschwunden ist: Geschäfte, Vereine<br />
und dergleichen. Dabei ist noch nicht einmal alles festgehalten,<br />
dessen man sich noch erinnern kann. Und dieses Welken einer<br />
Stadt mag an anderen Orten ähnlich vor sich gegangen zu sein.<br />
Das „verwirrte Handeln“, von dem Goethe fünf Tage vor seinem<br />
Tode schrieb, scheint sich fortzusetzen.<br />
9. Januar<br />
Eine Vorlesung <strong>aus</strong> dem Buche von Solshenizyn, „Der Ar-<br />
chipel Gulag“, brachte Furchtbares zu Gehör. Diese Welt ist<br />
zum Untergange reif. Kein Wunder, daß die Sonne sich das<br />
nicht mehr ansehen mag. Eine klägliche Rolle spielte M. Gorki 1<br />
1 Vom 20.–23. Juni 1929 besuchte Maxim Gorki (1868–1936) das sowjetische Arbeitser-<br />
ziehungslager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer; obwohl er die inszenierte<br />
Vorführung der guten Lebensbedingungen der Gefangenen sehr wohl durch-<br />
schaute und ein mutiger Junge ihm die Unmenschlichkeit des Lagerregimes ge-<br />
schildert hatte (er wurde nach Gorkis Abreise mit 300 anderen erschossen), lobte<br />
Gorki die Einrichtung, vgl. Solshenizyn, Der Archipel GULag. Folgeband: Arbeit<br />
und Ausrottung, Seele und Stacheldraht, Bern 1974, S. 58–61; vgl. auch Dmitri<br />
in dem Berichte. Etwas Intelligenz allein und ein geschicktes<br />
Durchsetzungsvermögen, die eigenen Interessen vorteilhaft zu<br />
lenken, genügen nicht, einen „erfolgreichen Schriftsteller“ zu<br />
einem bedeutenden Menschen zu entwickeln. Das zu beobach-<br />
ten gaben die letzten Jahrzehnte mehrfach gute Gelegenheiten,<br />
und recht trostlose Helden des Tages dämpfen jede Begeiste-<br />
rung. Sich mit Pflanzen und Tieren zu befassen, erscheint sinn-<br />
voller als jede Betrachtung menschlicher – meist unmenschli-<br />
cher – Verhaltensweisen.<br />
13. Januar<br />
Von Dr. Toepels soll ich Dich herzlich grüßen. Ein Traktorist<br />
<strong>aus</strong> Schönberg 2 , der mich gestern zu Dr. Toepel fuhr und der<br />
den „F<strong>aus</strong>t“-Kurs mitgemacht hatte, bat mich um eine Fortset-<br />
zung mit Shakespeare. Dazu werde ich mir nun etwas einfal-<br />
len lassen müssen. Vielleicht beginne ich mit dem „Sommer-<br />
nachtstraum“. Erst muß ich meine „Frühjahrs-Müdigkeit“ wirk-<br />
sam bekämpfen. Das ist eine lästige Sache. Fleiß ist nur an<br />
meinem Futterplatze am Fenster zu beobachten.<br />
17. Januar<br />
Spengler ahnte mit seinem „Untergang des Abendlandes“<br />
den Gang der Weltgeschichte. Als das Buch erschien, glaubten<br />
wir noch, uns gegen diesen Verlauf wehren zu können! Aber die<br />
Übel waren stärker.<br />
5. Februar<br />
Dienstag abend brachte das Radio eine Darstellung von der<br />
Zerstörung von Dresden am 13. Februar 1945. Dar<strong>aus</strong> wurde<br />
S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und<br />
Perestroika, Ostfildern 1997, S. 95–114.<br />
2 Reinhard Mehnert; nach einer Schlosserlehre nahm er ein Theologiestudium am<br />
Paulinum in Berlin auf.<br />
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