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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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Mann eben auf die Hinrichtung wartet, lange vergeblich telefonisch den Staatsanwalt zu<br />

erreichen versucht; sie hat nämlich just im letzten Moment das Dokument gef<strong>und</strong>en, das<br />

den Beweis der Unschuld enthält.<br />

Auch in Deutschland gab es ähnliche Stücke, z. B. eines, dessen Autor <strong>und</strong> Titel mir<br />

entfallen sind, <strong>und</strong> das unversehens in einem, wie behauptet wird, »öffentlichen« Konzert<br />

des R<strong>und</strong>funkorchesters anfängt. Die Musik bricht ab, weil der Erste Geiger, von einem<br />

vergifteten Pfeil aus dem Zuschauerraum getroffen, zusammensinkt; nun beginnt vor den<br />

Ohren der Zuhörer ein Detektiv die Untersuchung. Und noch vor wenigen Jahren wurde in<br />

einem <strong>Hörspiel</strong> Der Viadukt von Wilhelm Semmelroth, das »Radio Bremen« sendete, die<br />

<strong>Geschichte</strong> des Wolkenkratzer-Selbstmörders auf einen mitteleuropäischen<br />

Lebensmüden übertragen: er hat vor, von einer hohen Brücke zu springen <strong>und</strong> befindet<br />

sich schon außerhalb des Geländers <strong>und</strong> des Zugriffs beherzter Augenzeugen.<br />

Hansjörg Schmitthenner glaubt mit dem Beispiel der Orson-Welles-Panik demonstrieren<br />

zu können, »wie weit dieser magische Prozeß geht«, der die Faszination des <strong>Hörspiel</strong>s<br />

ausmacht. Man könnte ebensogut mit der schreckhaften Wirkung von Wachsfiguren aus<br />

dem Panoptikum belegen wollen, was Kunst für die Verzauberung der Phantasie zu<br />

leisten vermag. Wirkungen solcher Art sind selbstverständlich außerkünstlerisch <strong>und</strong><br />

haben auch im <strong>Hörspiel</strong> mit der Magie des Wortes nichts zu tun. Im Gegenteil, man kann<br />

an ihnen exemplifizieren, welche Art von Illusionierung das <strong>Hörspiel</strong> als künstlerisches<br />

Gebilde unter keinen Umständen anstreben darf. Die fingierte Reportage ist nichts als ein<br />

übler Trick, mit dem der R<strong>und</strong>funk, wenn er ihn zu oft anwendet, seinen Kredit bei<br />

ernsthaften Hörern aufs Spiel setzt. Und ist eine Hörszene als Reportage von wirklichen<br />

Vorgängen mißzuverstehen, dann besitzt sie nicht eigentlich poetische Wahrheit, sondern<br />

diejenige einer mit betrügerischer Absicht montierten Photographie.<br />

Dies ist also nicht gemeint, wenn vom <strong>Hörspiel</strong> als »dialogisierter Novelle« gesprochen<br />

wird, gemeint sind Stücke, die mit den Mitteln auf ehrliche Weise umgehen. Auch<br />

Realismus ist ehrlich, vorausgesetzt, er will uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß er<br />

Fiktionen darstellt.<br />

Doch können die Hörer eines <strong>Hörspiel</strong>s die Grenze zwischen Novelle <strong>und</strong> Bericht,<br />

zwischen dialogischer Wirklichkeitsdarstellung <strong>und</strong> wirklichem Gespräch ja so leicht nicht<br />

verkennen, wenn Dramatisches <strong>und</strong> Episches, Präsens <strong>und</strong> Präteritum, reale <strong>und</strong> irreale<br />

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